Wie unsichtbar ist die »unsichtbare Hand«?
Die »unsichtbare Hand« ist das wahrscheinlich wichtigste Theorem der modernen Volkswirtschaftslehre. Die gesellschaftliche Frage, ob sich die Wirtschaft und damit die gesamte Gesellschaft spontan, wie durch eine unsichtbarer Hand gelenkt, organisiert, ist für die politische Philosophie eine zentrale Frage.
Ist die Wirtschaft wirklich ein selbstreguliertes und sich selbst steuerndes Gebilde? Vielleicht sogar die ganze offene Gesellschaft? Wie viel wird tatsächlich von einer unsichtbaren Hand gelenkt, wie Adam Smith einst formulierte? Können wir Märkte »sich selbst überlassen«?
Genau diesen Fragen gehe ich in einem längeren Essay, den ich Ihnen unten verlinkt habe, mit dem gleichnamigen Titel, nach. Ich zitiere aus der Einleitung:
„Die zentrale Frage, die sich jedes Gemeinwesen stellen muss, ist die nach dem Grad der Geplantheit ihrer Verhältnisse. Wie viel Spielraum soll der individuellen Planung und wie viel der kollektiven Planung, etwa durch den Staat und seine Organe, zuteilwerden? Der große Liberale F.A. Hayek beschrieb diesen Konflikt mit zwei opponierenden Seiten. Auf der einen Seite stünden die Konstruktivisten, die seit Francis Bacon (und wenn man Popper gelesen hat, sogar schon seit Platon) der Idee anhängen, eine Gesellschaft vollständig und rational entwerfen zu können.[1] Die Vernunft wird hier jeder spontanen Organisationsform als überlegen angesehen. In Stalins Worten ist die „Anarchie der Produktion“ zu eliminieren und durch eine moralische Ordnung zum Wohle aller zu ersetzen.[2] Auf der anderen Seite stünde ein evolutionär verstandener Liberalismus, der einer Freiheit vertraut, die in Hayeks Worten bedeutet, „daß wir in gewissem Maße unser Schicksal Kräften anvertrauen, die wir nicht beherrschen.“[3] Ein Liberalismus, der sein rationalistisches Erbe von sich geworfen hat und die Vernunft als eng begrenzt begreift.
In meinem ersten Teil werde ich versuchen, diese von Hayek getroffene Unterscheidung herauszufordern. Ich halte sie nicht für das letzte Wort in dieser Frage. Es sind kapitalistische Gesellschaften in Asien entstanden, die sich stark dem Ideal der konstruktivistischen Planung verschreiben, ohne sich in eine Zentralverwaltungswirtschaft verwandelt zu haben, wie Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur und seit neuestem die Volksrepublik China. China gilt heute sogar in vielerlei Hinsicht als erfolgreicher darin, eine moderne Infrastruktur bereitzustellen und Ersparnisse in der Masse der Bevölkerung zu akkumulieren als herkömmliche liberale Demokratien. Aber auch die liberalen Demokratien haben sich weit von dem Ideal eines Nachtwächterstaates entfernt. Sie verbinden hohe Dynamik mit zum Teil starken Eingriffen in die spontane Ausgestaltung der Gesellschaft. Der alte Widerspruch zwischen Planung (und damit einhergehender Verarmung) und Freiheit (und damit einhergehendem Wachstum und Wohlstand) ist in dieser einfachen Dimension nicht mehr aktuell. Ich denke, der Liberalismus wird seine verständliche Abwehr gegen einen überzogenen Konstruktivismus relativieren müssen, um für einen liberalen Konstruktivismus Platz zu machen, der gerade dadurch, dass er für eine freie Gesellschaft plant, in einer höheren Freiheit für alle Bürger mündet, als Hayeks blindes Vertrauen auf die rein spontan sich ergebenden Kräfte des Schicksals. Wobei ich gerne zugestehe, dass diese Kritik an Hayek nicht sein gesamtes Werk trifft. Viele Hayek-Exegeten, so auch Stefan Kolev, teilen Hayeks Werk in drei Teile ein.[4] Hayek I ist der Konjunktur- und Preistheoretiker der 1920er und 1930er Jahre und noch der politische Autor des „Wegs zur Knechtschaft“ von 1944. Hayek II ist der politische Philosoph der mittleren Lebensjahre, der sich vor allem in seinem ersten großen Werk, der „Verfassung der Freiheit“, als ordoliberaler Denker zeigt und noch in einigen Aufsätzen zur Erkenntnistheorie wie der „Theorie komplexer Phänomene“ und dem „Mißbrauch und Verfall der Vernunft“ in Erscheinung tritt. Hayek III ist dann der späte Hayek, der sich mehr und mehr in den evolutionstheoretischen Grundlagen seiner Sozialtheorie verliert („Recht, Gesetz und Freiheit“ [1973-1979] und „Die verhängnisvolle Anmaßung“ [1988]) und nun eine stark biologistische Lesart seiner früher eher kulturalistischen Thesen vertritt. Meine Kritik richtet sich daher vor allem gegen Hayek III und Teilaspekte von Hayek II. Hayek I wird hier nur eine untergeordnete Rolle spielen.“
[1] Vgl. Hayek (1973), S. 74. Vgl. auch Popper (1944), S. 65.
[2] Vgl. Stalin (1906), Kapitel 3: „Somit sind die Krisen, die Arbeitslosigkeit, die Stockungen in der Produktion, die Anarchie der Produktion und dergleichen mehr das direkte Resultat der Unorganisiertheit der modernen kapitalistischen Produktion.“ (Hervorhebung M.T.)
[3] Vgl. Hayek (1976), S. 49.
[4] Vgl. Kolev (2011), S. 26: „Im Folgenden wird die These vertreten, dass es hilfreich ist, anstatt der üblichen Zweiteilung eine Dreiteilung vorzunehmen: „Hayek I“ als der Konjunkturtheoretiker, „Hayek II“ als der ordoliberale Ordnungstheoretiker/Sozialphilosoph und „Hayek III“ als der evolutorische Sozialphilosoph.“