»Kaffee und Zigaretten« – Ferdinand von Schirachs neues Werk wirkt distanziert und leblos
Ich bekenne es. Ich bin ein großer Verehrer des Herrn Ferdinand von Schirach. Seine puristische Erzählweise, seine von allen Schnörkeln gereinigte Sprache, die manchmal quälende Genauigkeit, mit der er seinen Figuren nachgeht sowie der philosophisch-melancholische Grundton, in dem er seine Fälle rekonstruiert, haben mich in seinen Bann gezogen. Als besonders angenehm empfand ich die Offenheit seiner Texte, die es den Lesern selbst überlässt, die Moral aus seinen Geschichten herauszulesen. Sie trägt sie nicht oberlehrerhaft vor sich her. Diese Moral, die sich nicht in einfachen Imperativen erschöpfte, sondern die Komplexität der Welt durch das Erzählen von Geschichten spiegeln möchte, war ein großartiges Erlebnis. Diese Moral lautete, wenn man sie auf einen einzigen Satz kürzen wollte: Das Leben macht die Dinge kompliziert; wir können noch so schöne Moral- und Gerechtigkeitsgebote, Rechtsstatute und Lehrsysteme errichten, den echten Menschen mit seiner einzigartigen Lebensgeschichte werden sie nie ganz erschließen und sie werden ihm nie vollends gerecht werden.
Seine Kurzgeschichtensammlungen »Verbrechen«, »Schuld« und »Strafe« (leider mit abnehmender Qualität) sind musterbildende Lehrstücke für eine solche, hoffentlich wieder in Mode kommende Möglichkeit des Erzählens, die sich vordergründig auf den Plot einer Geschichte konzentriert und uns dadurch im Nachgang durch das Räsonieren und Überblicken der Geschichte im Ganzen, neue Einsichten über das Menschsein an sich ermöglichen. Es handelt sich um Texte, die philosophisch sind, ohne eine Abhandlung zu sein; Philosophie im literarischen Format, vergleichbar mit den Arbeiten Voltaires oder Dürrenmatts.
Jede dieser Geschichten war in sich großartig komponiert und gleichzeitig immer allegorisch zu verstehen. Eine große Kunst. Die wichtigsten Erkenntnisse von Schirach schienen mir hier bisher zu sein: Unsere Intuition, dass es gute und schlechte, für Straftaten prädestinierte und überhaupt nicht in Frage kommende Menschen gäbe, ist falsch. Selbst Menschen aus dem besten Elternhaus, mit der besten Bildung und der größten Freundlichkeit und Toleranz im öffentlichen Auftreten können furchtbare Verbrechen begehen. Und häufig ist die zivilisatorische Schicht, die wir zwischen dem Menschen und dem Verbrechen erschaffen haben, erstaunlich dünn und gebrechlich. Das gilt nicht nur für Unrechtssysteme wie das Dritte Reich, in dem jeder Zweite zum Mittäter wurde, sondern auch für unsere moderne, liberale Demokratie. Zweitens ist aber das Urteilen über einen Menschen, nur aufgrund seiner Tat, unvergleichlich schwer. Wie viel Schuld hat er tatsächlich auf sich geladen? Wie viel können wir seinem Gewissen, wie viel nachvollziehbaren Umständen zuschreiben? Schnell kann sich unsere Sicht auf eine Tat durch ein einziges Faktum, eine einzige Kleinigkeit, die wir über den Täter erfahren, vollkommen verändern. Das Recht und der Rechtsstaat werden bei Schirach immer wieder als die unerreichbaren Ideale sichtbar, die sie aufgrund der Vielschichtigkeit des Menschen unwiderruflich sind. Dritte Einsicht: Je länger man sich einem Menschen in seiner Komplexität nähert, um so stärker werden unsere Gefühle des Mitleids und der Großzügigkeit. Die Härte und die Wut werden gemildert oder verschwinden gar. Man denke hier an den brutalen Mord eines Ehemannes an seiner Frau im ersten Buch von Schirachs. Er nennt ihn dort »Fähner«. Fähner, ein angesehener Arzt in einem süddeutschen Dorf, schlägt wie besessen mit einer Axt über 70 Mal auf seine Frau ein, mit der er über 50 Jahre zusammenlebte. Intuitiv verachten wir ihn und sind erschaudert von der Brutalität der Tat, der sich dieser Mann hingab. Im Laufe der Geschichte erfahren wir aber, wie perfide der Mann von seiner Frau über Jahrzehnte psychisch gequält wurde und wie die Schutzräume, die er daher zwischen sich und seine Frau gestellt hatte, nach und nach von ihr eingerissen wurden, so dass er keinen Ausweg mehr fand, außer in die Konfrontation zu gehen. Weil er altmodisch und sehr katholisch ist, kann er es nicht über das Herz bringen, seinen Schwur, für immer mit ihr verheiratet zu bleiben, zu brechen. Gleichzeitig kann er der seelischen Folter durch seine Frau nicht mehr standhalten. Der innere Konflikt bricht auf und er schlägt zu. Das Wissen um sein Leid verändert den Fall, ohne das Verbrechen ungeschehen zu machen. Unsere negativen schnell aufbrausenden Gefühle, dass wird uns durch Schirachs Literatur immer wieder vor Augen geführt, sind nur Initialzündungen, die häufig einer rationalen Prüfung nicht standhalten. Sie sind vielmehr täuschende Illusionen, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Sie sind Verblendungen, mit denen wir uns mehr dem Tier in uns hingeben als dem aufgeklärten Vernunftmenschen. Soweit zur Genialität von Schirachs Erzählungen.
Die Aussagen seines neuen Romans »Kaffee und Zigaretten« hingegen sind viel weniger genau. Die Geschichten schwanken erstaunlich stark in ihrer Qualität und ihrer Dichte. Da springt uns als erstes ein autobiographisches Selbstzeugnis ins Auge, das in einer distanzierten dritten Person geschildert wird. Ein Junge muss früh den Tod seines geliebten Vaters überwinden, mit dem er nie eine geplante Reise nach Australien antreten konnte. Es wird liebevoll die ruhige und heimelige Welt auf dem bayerischen Land geschildert. Die alte Heimat scheint durch den Tod des Vaters für Schirach für immer seine Ruhe und Beständigkeit eingebüßt zu haben. Doch deshalb gleich ein Selbstmordversuch? Der Junge betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit und greift zur alten Schrotflinte seines Vaters, um sich im Garten zu erschießen. Zum Glück vergisst er es, eine Patrone in das Gewehr einzulegen und schläft auf dem Boden mit der Flinte im Mund ein. Schirach gibt uns wenig an die Hand, um diese Handlung besser zu verstehen. Er schreibt nur, dass seine Familie, wie auch er selbst, seit diesem Tag über jenes Ereignis geschwiegen hätten. Aber wenn er es schon auf sich nimmt, eine solch persönliche und existenzielle Erfahrung preiszugeben, wäre es für den Leser interessanter gewesen, weiterführende Gedanken des Autors zu diesem Kapitel seines Lebens zu vernehmen. Wie steht er heute zu dieser Tat? Hält er den Suizid immer noch für eine Möglichkeit? Hat er sich vollkommen von ihm abgewandt? War er selbst erschreckt über seine radikale Entscheidung? Was genau ist es, was der Tod seines Vaters in ihm auslöste?
All das bleibt uns verborgen. Die Handlungen in »Kaffee und Zigaretten« bleiben fremd und können sich uns nicht öffnen, weil Schirach, sobald es um ihn selbst geht, nicht dieselbe Übersicht über die geistigen Vorgänge und Ursachen seiner Taten zu besitzen scheint, wie er sie minutiös und schonungslos ehrlich bei seinen Mandanten zu analysieren fähig war. Die Selbstanalyse scheint ihm weitaus schwerer zu fallen als die Beurteilung fremden Leids. Es wird deutlich, dass er mit Liebesbeziehungen abgeschlossen hat, sich mit einem bürgerlichen und geregelten Familienleben nicht anfreunden kann, sich von dem Anspruch auf große Besitztümer oder einem Leben auf großen Partys und glamourösen Empfängen lieber fernhält. Aber warum diese Abkehr? Warum die Einsamkeit? Dieses Warum ist es, das selbst den wohlgeneigtesten Leser quälen muss.
Es ist diese Abschirmung der Handlungsmotive vor dem Leser, die es verunmöglicht, dass sich dieselbe Empathie einstellt, wie sie seine früheren Geschichten erzeugen konnten. Die überraschende Wendung der Geschehnisse durch Perspektivwechsel fehlt hier vollständig. Denn selbst wenn Schirach uns eine Wendung präsentiert, scheint sie in »Kaffee und Zigaretten« unwirklich und nicht nachvollziehbar. Sie wirken sogar, was besonders schade und unsympathisch ist, überheblich und als Luxusproblem einer kleinen Elite, die so gut umsorgt ihr Leben führen kann, dass sie an dessen Sinn und Bedeutung verzweifelt. Aber warum? Weil diesem Leben die wahren Prüfungen und das Leid des Normalbürgers fehlen? Weil sie nie um ihre Existenz fürchten müssen? Immer wieder geht es um das Thema des verarmten Adels, um verlorene Söhne, die große Anwesen verfallen lassen, weil sie mit dem Leben nicht zurechtkommen. Doch gewichtige Gründe liefert uns Schirach dafür nicht. Ist es einfach ihre Langeweile, die sie nicht aushalten? Aber auch dieses Thema hätte man einfühlsamer beschreiben können. Auf diese Weise bleiben die Figuren äußerlich, unnahbar und oberflächlich. Es wirkt sogar etwas vorgeschoben, das große Leid, die große Melancholie, die Schirach seinem Leben andichten möchte. Als habe er zu viele echte Tragödien bei seinen Mandanten erlebt und sich dadurch für sich selbst echtes Lebensglück versagt. Wie kann man lachen, wenn man all das Leid der anderen gesehen hat? Das scheint Schirach zu beschäftigen. Und deshalb wirkt es, als sei es nicht seine eigene Verzweiflung, die sich in diesem Buch spiegelt. Sie erscheint derivativ, abgeleitet von dem Leid anderer. Er selbst ist ja höchst produktiv, schreibt wie ein Besessener jeden Tag, so dass er zu der Feststellung kommt, dass die Zeitpunkte zwischen dem Schreiben, die für andere Menschen das wahre Leben darstellt, für ihn immer kürzer und unwirklicher werden. Das Schreiben sei für ihn seine wahre Bestimmung und die einzige befriedigende Existenzform geworden. Das ist an sich für einen begnadeten Schriftsteller weder ungewöhnlich noch traurig. Menschen mit besonderen Begabungen neigen zu einem gewissen Autismus und nichts anderes spricht aus diesen Zeilen von Schirachs. Die Weltabgewandtheit des Schriftstellers ist häufig eine Überforderung damit, die Welt abseits gedruckter Blätter für sich als erfreulich zu erleben. Ganz typisch für diesen Autismus ist die Erfahrung, sich überall sonst – außer am eigenen Schreibtisch – fremd zu fühlen. Keinen Zugang zu diesen Welten zu bekommen und auch die Gefühle der Masse für die Aktivitäten des Alltags nicht teilen zu können. Auf Partys überkommt ihn kein fröhlich berauschendes Gefühl, wie es bei anderen Menschen der Fall ist, die sich regelrecht danach sehnen, unter vielen anderen zu sein, sie sehen zu können und selbst gesehen zu werden. Ihn treibe es immer wieder an die Cocktailbar, wo er sich solange herumdrücke, bis er jemanden sehe, den er kenne. Dieses unwohle Gefühl, der einzige zu sein, der niemanden kennt und trotzdem nicht sofort gehen zu wollen, kennt jeder, aber ist es eine Tragödie? Ein gewisses Amüsement brachte mir diese Beschreibung von Schirach, aber eine tiefere Einsicht verschaffte sie mir nicht.
Auch wenn er mithilfe der Schicksale anderer bestimmte Gefühle beschreiben möchte, die wohl auch ihn beschäftigen, bleiben diese seltsam diffus. Ein befreundeter Anwalt, ebenso vom Leben abgeschottet, mit zugezogenen Fenstern, einem nicht vorhandenen Privatleben und einer selbst erwählten Einsamkeit, schildert von einer alten Geschichte, bei der er sich in seine Mandantin verliebt und nur aus diesem Grund ihren Fall annimmt, der rein gar nichts mit seinem sonstigen Fachgebiet zu tun hatte. Wie in einer griechischen Tragödie rächt sich diese kleine Sünde und Abkehr vom rechten Pfad allzu schnell. Es geht um eine pikante Angelegenheit. Die Mandantin hatte eine Affäre zu einem verheirateten Mann, die allerdings von ihm beendet wurde. Nach dem Ende der Liaison unterschieden sich die Darstellungen der Ereignisse. Die Mandantin behauptete, aus Scham habe ihr ehemaliger Liebhaber ihr eine Art Abfindung in Höhe von 100.000€ gezahlt. Auch hierin sieht man, in welchen Kreisen Schirach verkehrt, wenn sich durch eine einfache Affäre noch solche Summen aufrufen lassen. Doch der klagende Ehemann behauptet, die Mandantin habe sich Zugang zu seinem Computer verschafft und sich das Geld selbst überwiesen.
Der Fall sieht erst einfach und für die Mandantin günstig aus. Denn sie war vorher niemals straffällig geworden und es gab auch keine Beweise für ein unbefugtes Zugreifen ihrerseits auf den Rechner. Dadurch schien die Sache entschieden. Der Anwalt möchte aber gründlich sein und lässt sich alle Akten und Dokumente zusenden. Aktenweise kommen die SMS-Chatverläufe der Affäre zu ihm ins Büro. Bei dem Lesen der Liebesbotschaften, der verbotenen Zuneigungen, steigert er sich noch mehr in sein Begehr nach seiner Mandantin. Er träumt sich jeden Abend in eine zukünftige Beziehung mit ihr und hofft, dass diese Träume wahr werden könnten, wenn er sie nur aus diesem Fall errette. Und die Mandantin scheint auch von dieser Reihenfolge der Ereignisse nicht abgeneigt zu sein. Sie macht ihm Avancen. Doch es kommt anders. Der Anwalt entdeckt unter den Stapeln ein von der Staatsanwaltschaft bisher nicht beachtetes Notizbuch, indem die Mandantin in den letzten Wochen der Beziehung ein Tagebuch führte. Dort findet er die Rachegelüste und die Pläne, die sie verraten. Sie hatte sich wohl tatsächlich Zugriff auf das Vermögen des Klägers verschafft und ihre Geschichte nur erfunden. Er lässt sie in seine Sprechstunde kommen und zeigt ihr seinen Fund. Um ihr zu gefallen, lässt er es zu, dass sie den einzigen Beweis ihrer Schuld an sich nehmen kann. Als er sie, nachdem sie den Fall gewonnen haben, wieder zu sich einlädt und nun versucht, ihr näher zu kommen, lacht sie ihn nur aus und sagt ihm, dass er ebenso ein Schwein sei wie alle anderen Männer auch. Und Schirach lässt den Erzähler anfügen: „Und sie hatte Recht.“
Bei allem, was sich über die Pflichtverletzung dieses Anwalts sagen lässt, kann ich diese Wendung nicht nachvollziehen. Warum ist er ebenso schlimm, wie ein Mann, der seine Frau betrügt? Warum sind durch diesen Fall alle Männer zu Schweinen zu erklären? Er erwartete ja nicht, dass die Frau für seinen Gefallen mit ihm schlafen würde. Er erhoffte es sich nur. Sein einziges Verbrechen war, sich Hals über Kopf verliebt und seine Dienstpflichten dafür verletzt zu haben. Warum im Nachgang sein Leben für immer jeden Charme, jede Liebe und jeden Sinn abseits der Arbeit verloren haben soll, erschloss sich mir beim besten Willen nicht? Noch eher wäre verständlich gewesen, wenn er seine Arbeit als Anwalt aufgegeben hätte. Denn Beweise verschwinden zu lassen, nur um einer Mandantin zu gefallen, ist kein Kavaliersdelikt. Auch wenn es in diesem Fall nicht um ein Kapitalverbrechen, sondern nur um eine Zivilstreitigkeit handelte. Schaden hatte er angerichtet. Aber warum nun aus dieser Geschichte das Scheitern der Liebe im Generellen zu schlussfolgern sei, erschließt sich mir nicht.
So zieht sich bei aller Eleganz, die Schirach in »Kaffee und Zigaretten«, was seinen Stil und seine Tonart angeht, wieder aufzubieten in der Lage ist, ein Faden seltsam unausgegorenem Beigeschmacks durch seinen Neuling. Leider muss ich auch dem Kritiker Manuel Bauer von literaturkritik.de zustimmen, dass einige der Geschichten wie eine Art Resteverwertung von früheren Werken daherkommen. Und leider gereicht das dem Buch nicht zum Vorteil. Manchmal finden sich ja in der Literaten-Schublade noch verborgene Schätze. Hier hingegen scheint der Verleger auf einen neuen Verkaufsschlager hin mit der Veröffentlichung gedrängt zu haben und Schirach in der Not, schnell etwas zu liefern, qualitativ mittelmäßige Beiträge abgegeben zu haben.
So sehr ich Schirach schätze, in diese neue Richtung der seelenlosen Melancholie und der Verzweiflung über ein nicht gelungenes Leben, trotz bester gutbürgerlicher Voraussetzungen, kann ich ihm nicht folgen. Man möchte den vielen unglücklichen Gestalten seines neuen Buchs zurufen: Dann macht doch etwas Sinnvolles aus eurem Leben! Helft anderen, gründet eine Stiftung, engagiert euch in der Politik, tut etwas! Aber nur zu verzweifeln, obwohl man im Schloss sitzt, scheint keine sehr nachvollziehbare Option. Natürlich soll hier auf die Krankheit der Depression verwiesen werden, die Schirach einmal kurz einführt. Aber diese wird ebenfalls nicht explizit analysiert und mit Leben gefüllt. Wenn ich mir das Innenleben einer solchen schweren Krankheit schon selbst ausdenken muss, dann möchte ich wenigstens etwas mehr Zucker bekommen, was den Plot angeht. »Kaffee und Zigaretten« ist noch stärker als Schirachs Vorgängerwerke als philosophischer erzählerischer Essay angelegt. Doch er ist leider weder ein guter Essay noch eine gute Kurzgeschichtensammlung. Ich hoffe daher, dass Ferdinand von Schirach bald wieder von fremden Fällen erzählen wird.