Ein (fiktives) Interview mit Karl Popper.
Sir Karl Popper, was ist das Geheimnis der Offenen Gesellschaft?
Karl Popper: „Ihr Geheimnis besteht meiner Meinung nach darin, dass die offene Gesellschaft aus dem menschlichen Leben kein größeres Rätsel macht, als es ist. Sie gaukelt den Menschen nicht mehr vor, dass es ein schon heute bekanntes Schicksal gäbe, das uns als Menschheit eines Tages ereilen müsste.
Sie gibt offen zu: „Es gibt keine unumstößlichen Gesetze der Geschichte, denen wir nicht ausweichen könnten. Es gibt kein Buch unseres Lebens, in dem von der Wiege bis zum Grab nur ein Weg vorgezeichnet wäre. Nein, die Zukunft ist offen. Wir haben es selbst in der Hand, unser Leben in ein Paradies oder eine Hölle zu verwandeln.“
Wer das akzeptiert, hat gleichzeitig anerkannt, dass sich die Politik nur um menschliche Belange zu kümmern hat und nicht um „das Schicksal unseres Volkes“, „die unermüdlichen Gesetze des Materialismus“ oder „den unausweichlichen Konflikt der heiligen Bücher“.
In der offenen Gesellschaft geht es um uns Menschen. Um wen auch sonst? Alle Belange der Politik sind menschliche Belange. Die offene Gesellschaft fordert daher den Fall aller übermenschlichen Ideale.
Sie gesteht sich ein, dass es nur darum gehen kann, dass wir uns ein möglichst angenehmes Leben hier auf der Erde einrichten, so lange es uns geben mag.“
Interviewer: Sie meinen also, das Wichtigste der offenen Gesellschaft sei ihr Verzicht auf eine mystische oder transzendentale Bezugsquelle?
Popper: „Ja, so kann man das sagen. Das hat den weiteren wunderbaren Vorteil, dass es nur eine Sprache der Verständigung geben kann. Und das ist die Sprache der Argumente und der Kritik.
Wenn es keine Dogmen gibt, die schon von sich aus Autorität beanspruchen können, worauf können Menschen sich sonst einvernehmlich einigen? Nur auf gute Argumente.“
Interviewer: Haben Menschen sich nicht auch immer wieder auf größte Machtunterschiede, auf Ausbeutung und Unterdrückung, auf falsche Parolen und menschenverachtende Propaganda geeinigt? Oder zumindest diesen Dingen den Vorzug vor der Rationalität gegeben?
Popper: „Sicher, die Geschichte Europas ist eine Geschichte eben eines solchen Kampfes. Überall auf diesem Weg stehen Mahnmale des Krieges, des Hungertodes, des Verderbens und des Abgrunds, das will ich nicht leugnen.
Es geht mir darum, dass wir aber ebenso eine Geschichte von Freiheit und Frieden in Europa zu erzählen haben. Und in dieser Geschichte sticht meiner Meinung nach die Sehnsucht nach einem Ideal hervor, das man die offene Gesellschaft nennen kann.
Eine offene Gesellschaft hat sich als aller erstes dem Frieden zu verschreiben. Das ist sicher eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte.
Auch wenn ich nicht glaube, dass es einen notwendigen oder vorherbestimmten Verlauf der Geschichte gibt, so meine ich doch, dass jeder vernünftige Mensch einsehen muss, dass Kriege von Übel sind.“
Interviewer: Was ist mit der Freiheit des Einzelnen? Vielen macht sie Angst, nicht zuletzt den Herrschenden. Denken Sie an das chinesische Modell als neues Gegenmodell zum Westen, warum meinen Sie, sollten wir lieber in einer offenen als in einer geschlossenen Gesellschaft leben wollen?
Popper: „Ich bin der Meinung, dass der Mensch Luft zum Atmen braucht. Es hat nicht nur mit den positiven Folgen der Freiheit zu tun, ein freies Leben führen zu wollen. Wer nicht mehr denken und sagen darf, was er möchte, spürt, wie unangenehm Unfreiheit ist.
Ich musste aus meiner wunderschönen Heimat Wien fliehen, um während jener dunklen Jahre Europas in Neuseeland ein bescheidenes aber freies Leben führen zu können. Und ich meine, jeder Mensch hat diesen Impuls zur Freiheit.
Ich will den Menschen nicht vorschreiben, dass sie aufbegehren und ihre Herrscher stürzen sollen. Ich möchte nur ein Ideal zeichnen, von dem ich meine, dass es sehr viel erstrebenswerter ist, als alle Sicherheit der Welt, welche immer solche Propheten versprechen, die den Menschen im Namen hehrer Ideale ihre Freiheit wegnehmen wollen.“
Interviewer: Freiheit ist für Sie also immer wünschenswert und sollte niemals für andere Werte aufgegeben werden?
Popper: „Man muss natürlich zwischen zwei Seiten der Freiheit unterscheiden. Die Freiheit hat für mich immer zwei Gesichter.
Sie hat eine Seite, die man in der Philosophie häufig »Spontaneität« nennt. Die größten Kunstwerke, die kühnsten Modelle, Ideen und Erfindungen sind das Werk freier geistiger Entfaltung. Spontaneität meinen wir, wenn wir von all den positiven Dingen sprechen, die mit der Freiheit einhergehen.
Der andere Begriff, der häufig fällt, wenn man von den negativen Seiten der Freiheit spricht, nennen die großen Philosophen »Willkür«. Zu viel Freiheit führt zu Willkürhandlungen, die bis zu Mord und Totschlag reichen können.
All die Geschichten von den Verbrechen und Ausuferungen der Freiheit, die wir alle kennen, wie die Betrüger an der Wall Street, die Ausbeuter in Afrika, die korrupten Politiker auf der ganzen Welt usw. sind die Folge unbeschränkter Handlungsmacht. Diese Geschichten veranlassen viele Menschen dazu, gegen die Freiheit zu sein.
Dabei gibt es dafür überhaupt keinen Grund. Ich erinnere hier nur an den großen Aufklärer Immanuel Kant, der die für mich beste Formel dafür vorgelegt hat, was Recht sein sollte. Recht verstand er als jene Einrichtung, die die Willkür des einen mit der Willkür des anderen unter einem allgemeinen Gesetz zusammenbringen kann.
Die mit anderen Worten, die Willkür eines Menschen gegen einen anderen ausschließt. Die offene Gesellschaft ist keine Gesellschaft der unbeschränkten Freiheit, sondern eine, die versucht, möglichst viel der spontanen und unglaublichen Schaffenskraft des Menschen zu erhalten und zu beschützen.“
Interviewer: Immer, wenn wir also von solchen Geschichten hören, wie Sie sie aufgezählt haben, müsste es sich ja dann, so hört es sich zumindest gerade bei Ihnen an, bloß um ein Versagen des Rechtsstaats handeln?
Popper: „Das ist richtig. Die meisten sind einfach Betrüger, die vor ein Gericht gehören. Aber sehen Sie, das ist auch ein wichtiger Punkt der offenen Gesellschaft. Schnelligkeit, Vorverurteilung und Rache sind keine Stärken der freien Gesellschaft.
Sie ist langsam, betulich, sie tut sich schwer damit, Verbrechen festzustellen und zu verurteilen. Aber all das geschieht nicht aus Schwäche, sondern zum Schutz der Freiheit aller.
Die meisten verstehen nicht, dass wenn Sie für eine schnellere Justiz, für rücksichtslosere Richter und einfache Verfahren eintreten, gleichzeitig sagen: „Wenn ich vor Gericht stehe, soll ich auch schnell und ohne Rücksicht auf meine Freiheitsrechte verurteilt werden.“
Interviewer: Aber können Sie nicht die Gefühle von Angehörigen der Opfer verstehen? Was hat die offene Gesellschaft für Antworten, an all diejenigen, denen es nichts nützt, dass die Freiheit aller weiterhin geschützt wird, aber die ihres Kindes, ihres Bruders oder Freundes ist ein für alle Mal dahin?
Popper: „Ich habe ja nicht gesagt, dass das Leben in der offenen Gesellschaft ein Paradies ist. Natürlich gibt es auch hier Bürden zu tragen und mit tragischen Lebensabschnitten umzugehen.
Aber keine Gesellschaft der Welt kann Verbrechen, Tod, Krankheit oder Verluste vollständig eliminieren. Man kann sie nur minimieren. Die Frage ist: Was haben die Gegner der offenen Gesellschaft diesen Menschen schon zu bieten außer leeren Versprechungen?“
Interviewer: Herr Popper, zum Schluss noch eine persönliche Frage. Sie haben die Idee zur offenen Gesellschaft bereits 1945 gehabt. Erst heute bekommt dieser Begriff jene Aufmerksamkeit, die er verdiente. Würden Sie sagen, wir lebten heute im Westen in offenen Gesellschaften?
Popper: „Wenn ich Ihnen sagen würde, dass es so wäre, würden Sie sich ja wahrscheinlich selbstzufrieden zurücklehnen. Und weil unser heutiges Gespräch nur ein Produkt Ihrer Phantasie ist, kann ich Ihnen nicht helfen, Ihr Bedürfnis danach zu stillen, zu wissen, ob Sie auf dem rechten Weg sind.
Ich habe nicht lange genug gelebt, um ihre Frage beantworten zu können. Ich bin nur bescheidene 92 Jahre alt geworden. Nun liegt es an Ihnen, das Beste aus meinen Ideen zu machen.“
Schönes Interview! Bitte erlauben Sie mir, eine weitere Frage an Herrn Popper anzuregen: Muß die Offene Gesellschaft Popperscher Prägung Tugenden (oder Haltungen) bei ihren Mitgliedern voraussetzen, die sie selbst nicht schaffen, ja vielleicht nicht einmal, sofern glücklicherweise vorgefunden, erhalten kann?