Sklerose
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Die gesellschaftliche Sklerotisierung – eine Erinnerung

Vor nun fast sechs Jahren schrieb der Heidelberger Philosoph Helmut Krebs seinen bissigen und vorausschauenden Essay „Sklerose: Leitbilder und Ideologien der alternden Gesellschaft“. Schlägt man dieses Buch 2021 auf, hat man das Gefühl, die heutige Zeit in einer Art Komödie auf der Bühne zu betrachten. So genau passen die Analysen auf die Jetzt-Zeit und den herrschenden Zeitgeist.

Die Diagnose des Essays lautet in einem Satz, dass die fortschrittlichen Kräfte unserer Gesellschaft erlahmt sind.

Es herrscht die neue Mitte, das Durchschnittliche, die Besitzstandswahrer. Die eigentlichen Gewinner der industriellen Revolution sind nach Krebs nicht die Arbeiter, sondern die akademischen Mittelschichten, welche der liberalen Demokratie ihren Stempel aufdrücken.

Im Gepäck tragen diese Schichten gefährliches ideologisches Frachtgut mit sich. Verstaubte Ideen von gesellschaftlicher Harmonie, einem zu erreichenden Gleichgewicht, einer Utopie der Statik. Das Ende des Wachstums wollen sie einläuten.

Dabei definiert Krebs die akademischen Mittelschichten wie folgt:

„Träger dieser Strömung sind die zahlreichen überwiegend geistes- und lebenswissenschaftlich ausgebildeten akademischen Mittelschichten: die Lehrer, Journalisten, Philosophen, Soziologen, Politologen, Historiker usw. Sie leben zum größten Teil vom Staat und von Einrichtungen, die eng mit dem Staatsapparat verflochten sind (öffentlicher Dienst, staatlich subventionierten Institute, den Kirchen und Informationsmedien). Sie kriechen in schlecht zahlenden NGOs unter oder arbeiten in der freien Wirtschaft in den Abteilungen, die die grüne Imagepflege betreiben.“

Sklerose, Krebs (2015), S. 63

Sie werfen dabei Wissenschaft, Rationalismus, Kapitalismus, Liberalismus und die Offene Gesellschaft über Bord. Sie glauben an allerlei Zivilreligionen, die ihnen als Ersatz für innere Leere dienen: an die Anthroposophie, den Ökologismus, das Heilpraktikertum und die antiautoritäre Gesellschaft.

Der Sozialismus konnte verhindert werden, doch was nun?

Dabei beginnt Krebs‘ Essay eigentlich positiv. Der Sozialismus der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten wurde besiegt und mit ihm das Ideal einer Planwirtschaft auf lange Zeit hin diskreditiert. Die Analyse vieler klassisch Liberaler, dass sich auch ein Sozialstaat zu einer Planwirtschaft hin fortentwickeln müsse, erfüllte sich bisher nicht.

Die von der Sozialdemokratie stark eingeschränkten Wirtschaftsräume des Westens blieben Demokratien und trotz allem Marktwirtschaften. Aber ihre Dynamik nimmt ab.

Das Wirtschaftswachstum bewegt sich seit den 1970er Jahren immer weiter nach unten und hat mittlerweile Werte zwischen 0-2 Prozent pro Jahr erreicht.

Dies kommt nicht von ungefähr. Durch die Umverteilungen des Sozialstaats werden Leistungsanreize stark gedämpft. In Deutschland gibt es eine breite Umverteilung von den wohlhabenderen Schichten zu den unteren Einkommen.

Dies hemmt den Aufstiegswillen, führt zu Mindestlöhnen und Absicherungssystemen, die alle Geschäftsmodelle unterhalb einer gewissen Schwelle unrentabel machen.

Gerade der Aufstieg durch Einzelhandel und Selbstständigkeit, der für untere Schichten der einfachste Weg zu einem höheren Einkommen und zu einem bescheidenen Vermögen ist, wird somit stark verbaut.

Krebs nennt diesen Effekt das umgekehrte Mephisto-Prinzip. Mephisto ist bekanntlich jene Gestalt aus Goethes Faust, die stets das Böse tut und doch das Gute schafft. Bei den Ökologisten und Sozialingenieuren ist es genau umgekehrt, sie wollen stets das Gute und erzeugen doch das Böse.

Die tausend Verbote, Regulierungen und Subventionen werden ebenfalls mit den besten Motiven errichtet, doch wird nicht bedacht, dass sie die Wirtschaft auf die lange Sicht einfach nur schwächen und die Mittel in unproduktive Zweige der Gesellschaft umlenken. Dies führt zu dem beschriebenen Stillstand des Wachstums, der allen Bürgern früher oder später schadet.

Doch folgt daraus kein Crash, kein Zusammenbruch der Marktwirtschaft. Der Kapitalismus wird zu ewigem Siechtum verdammt.

Krebs beruft sich auf den Ökonomen Ludwig von Mises, um darauf hinzuweisen, dass wir mit der historischen Entwicklung Chinas ein Beispiel besitzen, was geschehen kann, wenn eine Gesellschaft ihre Dynamik und ihren Wachstumspfad verlässt.

Zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert schottete sich China vom Welthandel ab, zerstörte seine Flotte und Bürokraten herrschten fortan mit eiserner Hand über die Einhaltung penibler, bis ins kleinste Detail des Alltags hineinreichender Gesetze. 500 Jahre schleichender Niedergang waren die Folge:

„Zum Übergang einer einstmals dynamischen Hochkultur, die tausend Jahre an der Weltspitze stand, zu einer fünfhundert Jahre währenden Stagnation trugen Lehren bei, die die Werte der Harmonie und des Gleichgewichts betonten, wie Feng Shui, das in den Kreisen unserer akademischen Mittelschichten zunehmend beliebt wird. Hier mischen sich Dünkel und Erschlaffung eines Konservatismus der Saturiertheit. In der Vorstellung der Überlegenheit mischt sich die Furcht vor dem Verlust zu einem Motiv des Bewahrens.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 16.

Es ist das alte Thema einer sich einschleichenden Dekadenz, welche die Ideen von Freiheit, Erfolg und Stärke, durch die Ideen von Gleichheit, Harmonie und der Bewahrung der Ordnung ersetzt. Nach Krebs müssen wir dies im übergeordneten Trend allerdings auch als Erfolg des Kapitalismus betrachten.

Ethischer Konsum als Ausdruck einer neuen Erlösungsreligion

Der Kapitalismus hat die westlichen Gesellschaften so reich gemacht, dass die harten ökonomischen Fakten für die Entscheidungen der Bürger immer weiter in den Hintergrund treten.

Man muss dabei verstehen, dass der Kapitalismus von der Mehrheit der Intellektuellen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs stets unbeliebt war und unbeliebt ist; trotz all seiner Erfolge. Dass man sich daher freut, die materiellen Wohltaten zur Umsetzung „anderer Werte“ auszugeben, sollte eigentlich nicht überraschen.

Wer reich ist, kann auch aus ethischen Motiven Käufe tätigen. Charity wird hier als umgekehrter Narzissmus der Geber verstanden. Da die engeren Bedürfnisse des Leibes und der Sicherheit der neuen Mittelschichten bereits befriedigt sind, wollen sie sich als besonders tugendhafte gute Menschen von dem Rest der Bürger distinguieren.

Ethischer Konsum, wie teurer aber meist nicht besserer „Fairtrade“-Kaffee oder Bio-Produkte, ist das Lieblingskind der akademischen Mittelschichten:

„Der Preisaufschlag bei sogenannten „ethischen“ Produkten entspricht dem Opfer, das der Kirchgänger in den Klingelbeutel wirft.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 38f.

Dabei bemerken die akademischen Mittelschichten nicht, dass sie diese Verzichtskultur nur aufgrund ihrer privilegierten Stellung und durch die harte Arbeit ihrer Vorfahren vertreten können:

„Verzicht zu predigen, fällt dem leicht, der über Reserven verfügt.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 158.

Dies allein wäre noch nicht schädlich, würden die akademischen Mittelschichten nicht tatsächlich glauben, damit die Welt verändern zu können. Krebs kommentiert bissig:

„Nur naive Menschen können annehmen, dass solche ethischen Käufe eine merkliche Wirkung auf die Verhältnisse in der Welt irgendwo haben.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 39.

Der Wandel des Konsums und damit der Lebensthemen geht mit dem Sieg gewisser Ideen einher. Krebs macht den Ökologismus als treibende Kraft der neuen Saturiertheit aus. Der Ökologismus ist eine Ansammlung von Ideen, der immer breitere Schichten anhängen, ohne dies explizit zu wissen oder sich als Ökologisten zu bezeichnen.

Der Ökologismus überhöht die Natur und findet darin seinen neuen Gottesbegriff.

Ganz dominant ist die Vorstellung einer in sich intakten harmonischen Natur, in die der böse Mensch zerstörerisch eingreift. Der ohnehin vorhandene Schuld- und Minderwertigkeitskomplex vieler Mittelstandskinder, die selbst das Vermögen, das sie ausgeben, nicht erarbeitet haben, ist wie geschaffen für eine solche misanthropische Sicht auf den Kapitalismus und die Industrie.

Da ist es nur recht und billig, dass man den grauen Vorfahren, die nur dem schnöden Mammon hinterherliefen, kolossale moralische Fehler vorwerfen kann, die es nun von einer neuen tugendhaften Generation zu beheben gilt.

So erzählt der Ökologismus, dass die industrielle Revolution und der Kapitalismus nur Unheil auf die Welt gebracht hätten: breite Umweltzerstörungen, Ungleichheit, das Patriarchat und der Imperialismus seien die Ergebnisse. Zugrunde läge all diesen Entwicklungen eine falsche Überhöhung des Menschen durch Technik und Produktion.

Denker wie Adorno und Horkheimer erklärten die Zweckrationalität der westlichen Kultur zum Übel schlechthin.

Sie predigen daher einen Wandel des Lebensstils. Krebs führt diese Ideen bis zu den Lebensreformbewegungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurück. Schon diese, von der Romantik inspirierten Denker, wie der Schweizer Max Bircher-Brenner, traten mit pseudowissenschaftlichen Beweisen dafür ein, nur noch Müsli und Rohkost zu essen. Industriell erzeugte Nahrungsmittel vergifteten schließlich den Körper:

„Heute wie damals geht es der Reformbewegung darum, dem falschen Leben in der Stadt, dem Einfluss der Industrialisierung und ihrer gesundheitlichen Belastungen zu entfliehen und die Zweckrationalität der Ökonomie durch eine Haltung der „Unmittelbarkeit“ zu ersetzen, um ein richtiges Leben in der Natur zu führen. Die „Zivilisationsschäden“ am Menschen können durch eine naturgemäße Lebensweise geheilt werden.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 123.

All die Mühen, die man daher auf sich nimmt, um dem Kapitalismus und seinen Verwüstungen zu entgehen, werden als Heilsweg zu einer weltlichen Erlösung in der eigenen Lebenszeit betrachtet. Dieses zivilreligiöse Angebot ist natürlich in einer ansonsten stark säkularisierten »kalten« Großgesellschaft unschlagbar.

Dass bei all diesen Ideen nie durchdacht wird, dass das Leben ohne Technik schließlich im Hunger- oder Kältetod der Mehrheit aller Menschen enden würde, dass wirtschaftliche Prinzipien keine ideologischen Hemmnisse sondern Überlebenstechniken darstellen, wird ausgeblendet.

Man lebt auch nie vollkommen nach den eigenen Vorstellungen, sondern bleibt auf halbem Wege stehen, wie die Asketen der Vorzeit, die Spenden annahmen, um absoluten Verzicht alles Weltlichen zu predigen.

Regionalwirtschaft und antiautoritäre Erziehung

Das zu erreichende »natürliche« Leben des Ökologismus hat viele Gemeinsamkeiten mit den Idealen frühkommunistischer Autoren. Krebs spießt die Wünsche nach einer wirtschaftlich autarken Kommune auf, in der ökologisches Kleinbauerntum vorherrscht und das Privateigentum, wenn nicht vollends abgeschafft, zumindest so weit durch Umverteilung reguliert ist, dass es keine Rolle mehr spielt.

Neuerdings nennt man diesen Trend Regionalwirtschaft. Das Prinzip weltweiter Arbeitsteilung und Lieferketten wird hier ohne großes Federlesen über Bord geworfen.

Die reale Umsetzung eines solchen ökologistischen Programms würde zur drastischen Verknappung aller Lebensmittel führen, weil »ökologische« Landwirtschaft teuer und unproduktiv ist. Düngemittel, Gentechnik und moderne Saatmittel sind das Lebenselixier der bald 8 Milliarden Menschen zählenden Weltgesellschaft.

Doch das stört die ökologistischen Eiferer nicht. Mal erklären sie, es sei doch nicht schlecht, wenn nicht mehr so viele Menschen auf der Welt lebten und offenbaren damit offen ihre Menschenfeindlichkeit oder aber sie träumen sich in eine Welt nur bestehend aus Bio-Bauernhöfen hinein. In beiden Utopien spiegelt sich ihre Weltfremdheit.

Krebs stellt klar: Die Natur ist nicht harmonisch, daher sind Eingriffe in sie durch Technik auch kein Frevel. Der Mensch muss, ob er will oder nicht, um sein Überleben kämpfen. Märkte, Technik und Wissenschaft sind der beste Weg dafür. Gleichgewichte stellen sich in der Natur immer nur temporär ein. Stetiger Wandel erzeugt Ungleichgewicht.

Die Welt der Biosphäre ist unwiderbringlich eine darwinistische Hackordnung, in der der Mensch nur insofern eine Ausnahme bildet, als er es geschafft hat, eine Kultur zu entwickeln, die allen Individuen seiner Gattung das Überleben sichern kann.

Die so viel Wohlstand erzeugt, dass nicht der eine erhält, was er dem anderen nimmt, sondern in dem alle Teile der Gesellschaft in Kooperation ein Mehr an Wohlstand für alle erzeugen.

Der Ökologismus hingegen predigt Verzicht und das Schonen der Tierwelt, um zu einem harmonischen Nebeneinander aus Mensch und Tier und Mensch und Natur zu kommen. Dass diese Harmonie gar nicht erreicht werden kann, wird nicht hinterfragt.

Industriell erzeugtes Tierleid kann man zwar verringern, aber nur dann, wenn man den Wohlstand des Menschen weiter erhöht. Denn nur aus dem menschlichen Wohlstand ergeben sich Handlungsspielräume.

Doch niemals werden alle Tiere der Erde in Harmonie zusammenleben. Nur in Erich Kästners »Karneval der Tiere« ist das möglich, in der Realität bleibt solche Dichtung Utopie.

Bildung und Schule als ständiger Kampfplatz

Eine andere Seite der akademischen Mittelschichten ist nach Krebs ihre absurde Überhöhung von Bildungspolitik und ihrem Auftrag an die Schule, ihre Vorstellung einer neuen Gesellschaft über die Umerziehung der Kinder zu verwirklichen.

Die Schulen werden aufgrund ihrer Indoktrinationsmöglichkeiten als archimedischer Hebel verstanden, an dem man beliebig die Gesellschaft formen könne.

Dabei werden den Kindern nicht nur ökologistische Ideen aufgezwungen, sondern Pädagogik als Befreiung des Menschen aus seinen, marxistisch gesprochen, »materiellen Klassenverhältnissen« verstanden.

Antiautoritäre Erziehung soll die Kinder zu wahrhaft freien Menschen machen. Das Auswendiglernen von Grundlagen, das Einhalten von Hierarchien, das Abarbeiten von Lehrplänen seien Reproduktionen längst überkommener Gesellschaftsstrukturen, die es zu durchbrechen gelte.

Klassenübergreifender Unterricht, Abschied vom Frontalunterricht, der Lehrer als Lerncoach, Schreiben nach Gehör und viele weitere Irrlehren verbreiten sich auf diesem Wege.

Krebs spricht hier aus bitterer Erfahrung als Hauptschullehrer.

Philosophisch reichen diese Ideen weit zurück. Kinder werden aufgrund eines dem ökologistischen Denken eigenen Ursprünglichkeitsmythos überhöht. Denn alles, was natürlich entstanden ist, wird als gut und richtig empfunden.

Daher ist alles Gesellschaftliche schlecht. Es gibt aber nichts von der Gesellschaft Unverdorbeneres als Kinder. Daher werden Kinder zu Knospen des neuen Menschen erklärt.

Schon Rousseau dichtete: Der Mensch wird frei geboren, doch überall liegt er in Ketten.

Reformpädagogen wie Montessori und Steiner predigten eine Erziehung vom Kinde her. Nicht die Kinder müssen die Inhalte und Codes der Gesellschaft erlernen und zu Erwachsenen werden, nein, die Erwachsenen haben sich den Kindern anzupassen.

Das alles ist leistungsfeindlich, kultur- und zivilisationsgefährdend und weltfern.

Kinder müssen lernen, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten. Sie müssen von Erwachsenen, die ihre Vorbilder sein sollten, erzogen werden.

Sie sind zwar neugierig auf die Welt und wollen auch etwas lernen, doch Grundlagenwissen zu pauken, macht nicht immer Spaß.

Lernen und Spielen sind nicht ein und dasselbe. Die ständigen Unterwanderungsversuche der Reformpädagogen in den öffentlichen Schulen richten beständigen Schaden an.

Lehrer sind verunsichert und glauben den Versprechungen der großen Meister. Doch schon nach wenigen Jahren in der Praxis erweisen sich die Lehren als wenig hilfreich.

Der ursprüngliche Eifer des Pädagogen weicht der Frustration der Praxis. Doch dafür macht der Reformpädagoge nicht seine eigenen Irrlehren verantwortlich, sondern meist die angeblich zu gering ausfallende staatliche Unterstützung der Lehrkonzepte. Dazu Krebs wieder prägnant:

„Erhöht die Bildungsausgaben!“ ist die Dauerforderung seit fünfzig Jahren.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 63.

Der verkappte Elitarismus der akademischen Mittelschichten

Obwohl der Ökologismus, die Reformpädagogik und die neue Linke sich als emanzipatorisch und fortschrittlich verstehen, vertreten sie doch eine extrem elitäre Weltsicht.

Denn erstens akzeptieren sie das Ökonomische als das gerade für die unteren Einkommen wichtigste Prinzip des Überlebens nicht an und zweitens muss alles, was ihren ethischen oder ästhetischen Maßstäben nicht gerecht wird, verändert werden.

Dadurch können sie nur für eine extrem kleine wohlhabende Oberschicht sprechen, die sich all diese Experimente auf Kosten der Allgemeinheit leisten kann.

Es entwickelt sich bei der Konfrontation mit dem einfachen Mann auf der Straße daher auch ein Selbstverständnis als moralischer und lebensweltlicher Avantgarde.

Man will das vorleben, von dem man glaubt, dass die Gesetze der Geschichte ohnehin zeigen werden, dass sie das Schicksal der Menschheit sind.

Der einfache Arbeiter oder Angestellte ist nicht in der Lage, die Großartigkeit dieser Ideen zu begreifen. Er muss daher mit stetiger Indoktrination von der Überlegenheit der Avantgarde überzeugt werden. Die Erschaffung des Neuen Menschen, die wir schon bei der Reformpädagogik betrachteten, ist hier das Ziel.

Diese Idee rettet absurderweise die Avantgarde davor, sich vollends von der Masse abzuwenden und kann sie als weise Führer mit der tauben Masse sogar versöhnen.

Die Avantgarde tröstet sich mit der Idee, die unwissenden Mehrheiten in bessere Menschen verwandeln zu können. Nur dieser Narzissmus, entsprungen aus magischem Denken, lässt sie den Ekel überstehen, den sie sonst vor dem einfachen Menschen empfinden. Es ist Ausdruck eines tief verankerten Elitarismus.

Als Mittel der Wahl zur Verwirklichung dieser Umerziehung kommt einem unweigerlich das Vorbild des langen Marsches durch die Institutionen von Rudi Dutschke in den Sinn.

Ohne das ein Plan dahinterstünde, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, drängen die akademischen Mittelschichten beruflich in die Medien, die Universitäten, NGO’s, Kirchenverbände, Bürokratien, Parteien und Schulen.

Sie durchdringen das meinungsmachende Milieu mit solcher Penetranz und Präsens, dass ihre Ideen omnipräsent in den öffentlich-rechtlichen und verzögert auch in den privaten Medien erschallen.

Viele Zeitungen, Radiosender und öffentliche Einrichtungen sind von Vorfeldorganisationen der Grünen und Linken nicht mehr zu unterscheiden.

Der Feind der akademischen Mittelschichten ist das Gewöhnliche, Normale, Spießige. Nichts trübt den Willen zur Revolution mehr, als ein zufriedener Bürger mit Reihenhaus und Kleingarten. Dazu Krebs:

„Der Spießer als Hassfigur steht für die Welt der Notwendigkeit und Vernünftigkeit, wirtschaftlichen Strebens und gesellschaftlicher Verantwortung. Nichts verachten die Elitaristen mehr als Ökonomie.“

Sklerose, Helmut Krebs (2015), S. 90.

Helmut Krebs bietet mit seinem Essay keine schnellen Lösungen, keine Patentrezepte und keine ausgearbeitete Zukunftsvision an, doch hat jeder Leser Anteil an einem reichen Fundus an Denkanregungen, tiefen Überlegungen und einem Schatz klarer und deutlicher Sprache.

Krebs bringt die Dinge derart auf den Punkt, dass man das Gefühl hat, beim Schreiben habe ihm die Bleistiftspitze das ein ums andere Mal abreißen müssen.

Krebs‘ Essay ist daher ein Diamant unter tausend rohen Steinen der Gegenwartsphilosophie.

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Weitere Zitate:

„Fehlgeleitet in ihrer wissenschaftlichen und beruflichen Orientierung kriechen sie [die akademischen Mittelschichten – M.T.] in der Staatsbürokratie unter, senken die Bildungsstandards und produzieren weitere Mitglieder ihrer Klasse, die wiederum nach Arbeitsplätzen im staatlichen Sektor rufen.“ S. 63.

„Das im öffentlichen Diskurs allenthalben propagierte Ideal einer gleichmäßigen Übernahme von Familienarbeit durch beide Geschlechter bleibt Wunschdenken und scheitert an den praktischen Schwierigkeiten eher denn an der Unwilligkeit der Männer.“ S. 65

„Es war traditionell das Geschäft der Kirchen, die Menschen moralisch zu lenken. Der gewachsene Einfluss von moralisch motivierten Aktivistengruppen entspricht dem schwindenden kirchlichen Einfluss. Häufig lässt sich auch beobachten, dass die Aktivisten einen kirchlichen Hintergrund haben. Während in einer Face-to-face-Gesellschaft die Kirchengemeinde der Rahmen für die Verhaltenskontrolle war, weitet sich in der Informationsgesellschaft das Aktionsfeld global. Kirchentage versammeln viele dieser zivilgesellschaftlichen Moralpolitiker. Die Gesichter tauchen wieder bei Aktionen von Attac, Occupy usw. neben den Aktivisten der Linken auf.“ S. 67

„Die Hauptsendung der zuständigen Redaktion des staatlichen Deutschlandfunks heißt „Umwelt und Verbraucher“. Die Themen der täglichen Sendungen sind genau auf die ökologistischen Lebensstile der akademischen Mittelschichten ausgerichtet, die Inhalte gegenüber der ideologischen Ausrichtung distanzlos und die Beiträge tendenziös-erziehend.“ S. 68

„Es dürfte kaum ein Gebiet des Alltagslebens geben, zu dem mehr ungesichertes Wissen und mehr Fehlinformationen verbreitet werden als zur Gesundheit und Ernährung.“ S. 70.

„Die Bundesregierung macht es sich zur Aufgabe, die Bürger zu Gesundheitsbewusstsein zu erziehen. Sie rät zum Verzehr von Obst und Gemüse fünf Mal am Tag. Dieser Rat, der auch von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DEG) verbreitet wird, geht auf eine Werbekampagne der Agrarwirtschaft zurück. Es wurde suggeriert, dass der Verzehr eine krebsvorbeugende Wirkung habe. Der Rat ist durch keinerlei wissenschaftliche Studien gestützt.“ S. 70

„Zur Ideologie wurde der Umweltschutz im Zuge der rückwärtsgewandten, das Mittelalter verklärenden Romantik. Die Romantik erfand den deutschen Wald, die klappernde Mühle und das Wandern als Genuss. Die Wandervögel und alle anderen Naturapostel wurden zu einer einflussreichen Lebensreform-Bewegung, die auch nach dem Ersten Weltkrieg fortdauerte. Sie ließ sich 1933 widerstandslos und teilweise begeistert gleichschalten.“ S. 72f.

„Die Ökologisten haben sich tief in das gesellschaftliche Leben und in die Staatsapparate eingegraben. Dabei haben sie Erfolg, weil sie sich als Interessenvertreter der Verbraucher einerseits und der „Natur“ andererseits profilieren und antikapitalistische Ressentiments bedienen.“ S. 73.

„Die ökologistischen Aktivisten finden oder erfinden einen Missstand , fordern seine sofortige Abstellung und wenden sich an den Staat mit dem Ruf nach einem gesetzlichen Eingriff. Dass sich mit der Zeit die meisten Probleme von selbst regeln, liegt außerhalb ihres geistigen Horizonts.“ S. 73.

„Hier kommt ein Faktor ins Spiel, der für die Lebenswelt des akademischen Mittelstandes typisch ist. Die höhere Bildung weckt das Interesse an Wissen aller Art. Doch sind die Wissensbestände uferlos und selbst für Fachleute nur in engen Ausschnitten überschaubar und verständlich. Die selbsternannten ökologistischen Verbraucherschützer gerieren sich als Fachleute. Sie maßen sich das Wissen an, dass zur Entscheidung über den Genuss von Verbrauchsgütern scheinbar relevant ist. Es werden Unmengen an, teilweise absichtlich verfälschten Informationen verbreitet, die die Kaufentscheidung zu einer unlösbaren Aufgabe machen.“ S. 74

„Das treibt sie als Gläubige in die Arme dieser modernen Spielart einer religiösen Sekte.“ Ebd.

„Die Liste der Produkte und Inhaltsstoffe, die angeblich gefährlich sein sollen, ist unüberschaubar. Da Menschen nur schlecht in der Lage sind, Gefahren realistisch zu bewerten, reagieren sie auf den permanenten Alarmismus mit einer erhöhten Vorsicht. Lieber einmal mehr als einmal weniger verbieten. Insbesondere werden die industriellen Produktionsmethoden der Landwirtschaft angefeindet, die Gentechnik, der Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln, die Massentierhaltung. Im Namen der Gesundheit werden Gefahren dramatisiert, im Namen der Tierliebe soll die Fleischproduktion verteuert und außer Landes getrieben werden. Das Treiben der Ökologisten ist in vielen Fällen unverantwortlich und inhuman.“ S. 74

„Die Ökologisten führen ihren Kampf nicht gegen einzelne problematische Produkte, sondern gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem, das sie als Krankheitsursache einer vermeintlich aus dem Gleichgewicht geratenen Natur deuten. Ihr Angriff gilt der technischen Innovation schlechthin.“ S. 75

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