Claus Dierksmeier – Die Moralisierung der Freiheit
In seinem Buch »Qualitative Freiheit – Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Absicht« entwickelt Claus Dierksmeier ein anspruchsvolles Freiheitskonzept, das den kosmopolitischen Ansprüchen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt gerecht werden soll. Doch ist es auch in sich konsistent und durchführbar? Diese Untersuchung stellt einige Fragezeichen an die sogenannte »qualitative Freiheit«, wie er sie nennt, sie reibt sich an ihr und versucht sich an einer Alternative. Denn in Dierksmeiers Traum liegt die Freiheit in ethischen Fesseln, eingekerkert unter dem pastoralen Kreuz dogmatischer Moralisierer. Doch gehen wir der Reihe nach vor.
- Metaphysische Freiheit
Claus Dierksmeier ist gründlich und leitet daher seine politischen Überlegungen gerechtfertigter Weise mit einer Abhandlung über die metaphysische Freiheitsdiskussion ein. Metaphysisch ist Freiheit deswegen, weil man sie nicht sehen, nicht direkt beobachten oder messen kann. Was wir nur sehen können, sind Menschen, die sich bewegen und sprechen, aber ob sie einen freien Willen besitzen, können wir ihnen leider nicht an der Stirn ablesen. Freiheit ist vielmehr eine Idee, eine der grundlegendsten und stärksten Ideen, die es gibt. Man könnte es statt der Freiheitsidee auch das Freiheitspostulat nennen, auf das die Metaphysik abstellt, wie es der Philosoph Geert Keil tut. Man kann Freiheit also nur postulieren, man kann versuchen, das empirische Material der Hirnforschung, der Soziologie, der Psychologie und der Ökonomie usw. mithilfe dieses Postulats zu untersuchen. Man kann dabei versuchen herauszufinden, ob die Idee der Freiheit sinnvoll oder widersprüchlich, mit den Datenbeständen vereinbar oder unvereinbar ist. Die Metaphysik beschäftigt sich also damit, was Freiheit für eine Fähigkeit ist, unabhängig von politischen Überzeugungen. Metaphysik ist in diesem Sinne objektiv.
Die einfachste Definition von Freiheit lautet hier, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, seine Handlungen seinem Willen gemäß durchzuführen. Und dass dieser Wille widerum nicht vollständig auf andere Ursachen zurückgeführt werden kann. Frei ist der Wille dann, wenn wir die Handlung, die aus ihm folgt, nur aus dem Urteil des Willens heraus verstehen können. Das heißt, Freiheit ist ein Vermögen. Wenn sich jemand für einen Beruf entscheidet, spielen zwar Eltern, Freunde, Bekannte und Kultur eine wichtige Rolle in der Urteilsfindung des Willens, aber letztendlich ist es nur der Wille selbst, der sich bindet. Er hätte sich gegen die Eltern, gegen die Freunde und gegen die Erwartungen der Gesellschaft entscheiden können. Der freie Wille ist ein nur durch sein eigenes Urteil gebundener Wille. Wenn Freiheit aber ein Vermögen ist, folgt daraus allerdings auch, dass man sie logisch gesehen, niemals durch politische Entscheidungen verlieren kann. Sie kann durch Politik auch nicht erschaffen werden. Sie ist unserer Art eigentümlich, sie ist eine Besonderheit unserer Spezies. Verlieren können wir sie nur durch biologische oder psychologische Defekte, niemals durch politische oder gesellschaftliche Entscheidungen. Hier hat die Freiheitsmetaphysik einen entscheidenen Zug der Freiheit offengelegt. Das Vermögen der Freiheit ist unabhängig von der Gelegenheit zur Freiheit. Wenn ein Mann in eine Felsspalte fällt und sich aus eigener Kraft nicht befreien kann, ist ihm sein freier Wille in metaphysischer Hinsicht nicht genommen worden. Er entscheidet sich immer noch, darauf hinzuarbeiten, wieder aus der Spalte herauszukommen. Das kann ihm niemand nehmen. Aber die Gelegenheit sich zu befreien, hat er nicht, und damit ist er in praktischer Hinsicht unfrei. Seine Handlungen sind erheblich eingeschränkt, aber sein Wille ist ungebrochen.
Auch ein Dieb, der mir eine Pistole vor das Gesicht hält und meine Brieftasche haben will, tut das nur, weil er mir meinen Willen nicht nehmen kann. Er manipuliert vielmehr meine Handlungsoptionen, damit ich mich für jenen Willen entscheide, den er mir eintrichtern will. Er benutzt mich als Werkzeug, aber damit das gelingt, muss er den Umweg über meinen freien Willen gehen.
Wir sehen, es könnte einen Menschen geben, der durch die Umwelt oder durch andere Menschen ein Leben lang daran gehindert wird, seine Freiheit auszuleben, sich ihr zu bedienen, aber das Vermögen zu ihr muss er über alle Einschränkungen hinaus schon besessen haben, sonst ergäbe unsere Rede von der Verwendung des freien Willens keinen Sinn. Wie sollte ein Gesetz oder eine politische Institution ein Vermögen in uns einsetzen, wenn es nicht schon vorher bestand?
Genau an dieser Stelle setzt Dierksmeier an und will einen anderen Weg einschlagen. Er will die Unterscheidung aus Vermögen der Freiheit und Gelegenheit zur Freiheit nicht mittragen. Er will die Metaphysik mit der philosophischen Freiheitsdiskussion vermischen, weil er diese Brücke für sein späteres Zusammenfallen von Moral und Freiheit benötigt.
2. Kant und die transzendentale Freiheit
Dierksmeier steht in einer kantianischen Tradition. Für Kant war Freiheit die Bindung des Willens durch Vernunft. Kant wollte damit verhindern, dass Freiheit eine rein pathologische Angelegenheit würde, wie er es nannte. Er hatte Bedenken davor, den Willen als etwas anzusehen, dass ebensosehr durch Gefühle und Stimmungen bestimmt wird, wie durch Intelligibilität. In einem rein mechanistischen Weltbild, das Kant noch vertrat, erscheint das auch plausibel. Wo sollte dort Platz für Freiheit sein, wenn die Säfte des Körpers den Willen bestimmten? Wo wäre der Intellekt, wenn wir doch nur die Sklaven unserer Triebe wären, wie David Hume behauptet hatte? Wenn der Körper eine in sich perfekt verschaltete Maschinerie ist, dann braucht es den absolut unabhängigen Geist, damit Freiheit möglich ist. Aus diesen Erwägungen heraus stellte Kant die »richtige« Freiheit, jene aus Vernunft entspringende, gegen das bloße Verfolgen der eigenen Neigungen, die pathologische Freiheit. Richtige Freiheit sei intellektualisierte Willensbildung. Sie sei frei von Trieben, Affekten, Umwelteinflüssen und beliebigen Kausalketten. Der Weg der Freiheit wies für Kant eindeutig in die Richtung des Geistes. An dieser Stelle müssen wir ganz genau sein. Solange Kants Freiheitsbegriff sich als Kritik des Psychologismus und Sensualismus versteht, hat er bis heute Bestand. Weder unsere Psyche noch unsere Sinnesdaten legen uns endgültig fest, der Wille wird generell nicht durch äußere Faktoren eindeutig festgelegt. Es gibt etwas Geistiges an unseren Willensentscheidungen, das auf nichts als auf unsere Entscheidung zurückgeführt werden kann. Zumindest hat es keine psychologische, neurologische oder sensualistische Theorie bisher verstanden, alle Willensakte logisch aus einem mechanistischen Kausalprinzip heraus abzuleiten. In diesem Sinne ist Kant beizupflichten. In einem anderen Sinne ist Kants Freiheitsbegriff allerdings problematisch. Kant selbst erkennt, dass man transzendentale Freiheit nur postulieren, oder in seinem Vokabular, nur über sie spekulieren kann, sie aber nicht im Absoluten zu erweisen oder zu widerlegen ist. Nun will er aber im Widerspruch dazu im sittlichen Handeln einen Beweis der Freiheit erblicken. Denn er meint, nur im sittlichen Handeln würde sich das Handeln aus Freiheit offenbaren.
Nehmen wir sein Beispiel, das auch Dierksmeier verwendet, von einem Mann, der unter der Androhung der Todesstrafe dazu gebracht werden soll, einen unschuldigen Menschen zu verleumden. Kant meint hier, dass es dem Mann doch möglich sei, sich sittlich an das Gebot der Wahrhaftigkeit zu binden und damit den Heldentod der Verleumdung vorzuziehen, obwohl der Mann sicherlich keine Neigung dazu verspürt haben könne. An dieser Ableitung sind dreierlei Dinge falsch. Erstens muss Kant eben jene Freiheit in seinem Beispiel bereits postulieren, die er damit als bewiesen ansieht. Wenn wir nicht wissen können, ob es überhaupt einen freien Willen gibt, können wir auch nicht wissen, welcher Beweggrund tatsächlich für die Handlung des gefragten Mannes entscheidend war. Vielleicht war es nur ein plötzlich auffeuerndes Neuron, das wir als Heldentod deuten. Wer weiß das schon? Er kann sich auch nicht herausreden, dass es doch potenziell möglich sein müsse, denn dafür müsste es ja die Fähigkeit bereits geben, die er mit dem Beispiel zu erweisen sucht. Auch die potenzielle Fähigkeit muss postuliert werden. Zweitens brauchen wir gar nicht solch besondere Extremsituationen zu bedienen, um die Möglichkeit von Freiheit als Unabhängigkeit von Neigungen zu denken. Denn auch Handlungen, die Neigungen entspringen, werden von diesen nicht festgelegt. Wenn ein Mensch einen Apfel sieht und von diesem affiziert wird ihn zu essen, gibt der Mensch, wenn es eine bewußte Handlung ist, seiner Neigung des Hungers bewußt nach. Er unterliegt nicht einfach seinen Trieben, er entscheidet sich für oder gegen sie. Das heißt, selbst das Essen eines Apfels kann als Handlung aus Freiheit gedeutet werden und nicht nur das moralische Handeln. Kant unterschätzt auch, dass Neigungen sich mitunter erheblich widersprechen und es daher nicht die einfache Dichotomie aus geistigen und körperlichen Beweggründen gibt. Meine Neigung nach Ruhe wird von der nach Bewegung aufgescheucht oder zerstreut, so wie mein Wunsch nach Harmonie von dem nach Abenteuer abgelöst werden kann. Man muss also gar nicht bis zu der abstrakten Wertbindung eines Willens vordringen, um Erfahrungen des Handelns als Erfahrungen der Freiheit zu deuten. Drittens ist es aus heutiger kognitionswissenschaftlicher Sicht eher wahrscheinlich, dass es tatsächlich auch eine Neigung, einen Drang, eine Prädisposition in uns gibt, uns moralisch zu verhalten. Diese Disposition legt keine bestimmte Moral fest, aber sie verleiht uns ein Gewissen, das uns nicht erlaubt, völlig über die Wünsche und Taten der anderen hinwegzusehen, ohne sie zugleich als bedenkenswert für unsere eigenen Handlungen zu betrachten. Wir wollen gemocht und moralisch integer sein. Dieser Wunsch selbst hat keine intellektuelle Wurzel, sondern scheint Teil unserer Natur zu sein. Wieder ist eine solche Tatsache kein Gegenbeweis gegen die Fähigkeit der Freiheit und in einer nicht mechanistischen Biologie auch kein Gegenargument zur Willensfreiheit. Ob wir dem Drang nach moralischer Integration folgen oder nicht, liegt wiederum bei unserem Willen und wird nicht determiniert. So zumindest kann man es aus freiheitspostulierender Perspektive betrachten.
Da Kant aber meint, diese Ableitungen seien notwenig, um Freiheit zu rechtfertigen, geht er noch radikaler vor und setzt den moralischen Willen als den einzigen fest, der wahrlich frei sei. Was meint er nun damit? Um einen freien Willen zu besitzen, muss ich nach Kant einen geistigen Akt vornehmen. Ich muss bedenken, ob der Wille, den ich mir vorzunehmen gewillt bin, überhaupt ein stimmiger Wille ist. Ich soll bedenken, ob er als ein allgemeines Gesetz gelten könnte. Hieran ist zweierlei schwierig. Auch fähigkeitsbasierte Freiheitsmetaphysiken geben zu, dass die Fähigkeit der Freiheit erst kultiviert und in gewissem Sinne in der Lebenspraxis selbst entfaltet und erlernt werden muss. Der Gebrauch ist nicht automatisch genetisch mitgegeben. Wir müssen lernen, einen einheitlichen rationalen und stimmigen Willen zu entwickeln, der sich in unserer Welt behaupten kann. Aber kritisch-rationalistisch könnte man monieren, dass man nie wissen könne, wie ein Wille gelten würde, wenn er ein allgemeines Gesetz wäre, denn dafür kann ich nicht nur ein Gedankenspiel bedienen, sondern muss Erfahrung hinzunehmen. Kants aprioristisches Vorurteil geht hier zu weit. Wer noch nie gelogen hat, wird nicht wissen, welche Folgen das Lügen haben könnte, wenn die ganze Welt sich der Lüge verschriebe. Es ist spekulativ und hypothetisch. Nur mit der Lebenserfahrung des Handelns meinen wir allgemeingültig ableiten zu können, dass eine Gesellschaft auf der Basis der Lüge nicht existieren könnte. Aber das bliebe, so gut es dann auch empirisch gedeckt sein mag, eine rationale Hypothese, eine falsifizierbare Behauptung.
Es ist schwer aus der Metaphysik der Freiheit Stufen der Freiheitsfähigkeit abzuleiten. Dann müssten wir eher in die Psychologie hineinsehen und die Stufen der Bewußtseinsfähigkeit und der Verantwortungszuschreibung untersuchen. Kinder haben einen erratischen Willen, er ist tatsächlich stark von den Emotionen gesteuert, das Kind kontrolliert ihn noch wenig durch seinen Intellekt, kann noch nicht abstrahieren und die größere Lage seines Handelns überblicken. Aber den genauen Punkt festmachen zu wollen, an dem aus einem unfreien Willen, ein freier Wille wird, ist noch keinem Philosophen oder Psychologen gelungen. Es scheint sich vielmehr um einen kontigenten und ständig weiterevolvierenden Prozess zu handeln. Das Selbstverständnis des eigenen Wollens endet erst mit dem Tod. Bis dahin sind wir ständig uns selbst immer besser konstituierende Wollende.
Viel weniger kontrovers wäre die Behauptung, dass ein Wille bestimmte inhärente Eigenschaften hat. Dann wären wir wieder in der objektiven Freiheitsmetaphysik angekommen. Ein Wille muss ein Ich postulieren, das wählt. Man kann nicht wollen und gleichzeitig denken, dass dort niemand etwas will. Ohne ein Ich gibt es kein Handeln. Dazu muss der Wollende subjektiv von der Verwirklichbarkeit seines Handelns überzeugt sein, sonst wäre es ein reiner Wunsch, der sich artikulierte, aber kein Wille. Aber selbst hier werden die Begriffe unscharf. Es gibt Selbsttäuschungen, bei denen Wunsch und Wille ineinandergreifen. Nehmen wir einen Sozialarbeiter, der sich in Afrika vorgenommen hat, für eine Hilfsorganisation zu arbeiten. Er will die Armut besiegen und weiß doch, dass er es in seiner Lebzeit nicht erreichen wird. Vielleicht weiß er auch, dass seine Tätigkeit ein Tropfen auf einem heißen Stein korrupter Regime und schlechter Wirtschaftspolitik ist, so dass sein Handeln gar nicht auf Dauer helfen kann. Es ist eine Sisyphosarbeit. Die Armut verschwindet nicht, man hilft nur für den Moment. Man hilft Einzelnen, denen morgen wieder geholfen werden muss. Trotzdem kann er sein Leben lang dort arbeiten, weil er seinen Beitrag leisten möchte, wohl wissend, dass es nicht das Ende der Armut sein wird. Handelt er nun aus Unfreiheit? Genügt sein Wille den Kriterien wahrer Freiheit oder nicht? Wer kann das entscheiden?
Der Begriff des Willens macht es extrem schwierig, das Konzept des Wollens scharf abzugrenzen und zu bestimmen. Auf ihm eine Ableitung von der Freiheitsmetaphysik in die Ethik hinein vorzunehmen, wie Kant es tat, muss problematisch werden.
Auch die Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs ist daher als apriorische Eigenschaft jedweder Ethik fragwürdig. Das absolute Verbot des Lügens kann uns hier als Beispiel dienen. Kant versteht nicht, dass Ethik auf ganz andere Weise zustande kommt. Ethik beginnt, wenn der Mensch schon längst handelt. Und es gibt nicht nur einen Test oder ein formales Kriterium nachdem man jedwedes ethische Gebot orientieren kann. Vielmehr bewerten wir unser Handeln, wenn wir ethisch handeln wollen, tatsächlich auf die gesellschaftliche Verträglichkeit hin, allerdings immer durch verschiedene Wertprismen. Wenn ein alter Mensch vor uns steht, der es noch nicht überwunden hat, dass sein geliebter Lebenspartner von ihm gegangen ist, kann es ein Gebot der Menschlichkeit sein, seine zeitweilige Lebenslüge mitzutragen. Sie nicht zu durchbrechen wie ein Panzer einen Vorgarten, sondern behutsam die Würde des anderen zu achten, kann dann der einzig vertretbare Wille sein. Moral ist also situativ, komplex und multidimensional. Selbst das allgemeine Gesetz der Moral schlechthin, das Kant zu finden glaubte, reicht nicht aus, ihre Komplexität zu erfassen.
Sein Wunsch nach vernunftgemäßer Erkenntnis eines solchen Gesetzes lässt sich nur heilsgeschichtlich verstehen. Kant glaubte daran, dass Gott uns die Vernunft mit einer gewissen Aufgabe verliehen habe. Sie könne doch nicht nur dafür da sein, unser Überleben zu sichern und unsere Gesellschaft bequem einzurichten? In ihr müsse sich der moralische Plan Gottes für unsere Existenz offenbaren. Diesen Zug in seiner Morallehre sieht man auch an seiner Endvorstellung des sich selbst verwirklichenden Menschen. Der Mensch solle nicht nur individuell nach einem Willen aus Vernunft heraus streben, sondern könne erst glücklich sein, wenn sich tatsächlich alle Menschen diesem Ziel verschrieben hätten. Dann erst könne er Frieden finden. Das ist deshalb der Fall, weil Gott den Menschen mit dieser Aufgabe betreut hat, er ihn aus allen Tieren für ein besonderes Schicksal auserwählte. Er allein hat unter den Tieren das Vorrecht inne, seinen Willen unabhängig von seinen Trieben zu wählen, er allein hat die Wahl zwischen Gut und Böse und soll sich für das Gute entscheiden. In Kants Vorstellung ist der absolut moralische Wille göttlich. Denn Gott ist das einzige Wesen mit einer unendlichen Vernunft. Gott ist Moral und Moral ist Gott. Die Ethik des Aufklärers endet in einer Vernunftreligion. Von dem Weg einer abstrakt-objektiv-transzendentalen Bestimmung der Grenzen der Möglichkeit von Moral ist Kant hier schon weit entfernt. Ob der Mensch immer das absolute Gute wollen muss, ist eine voraussetzungsreiche und schwer begründbare metaphysische These, die den Freiheitsbegriff unnötig belastet, anstatt ihn schlank bei einer bloßen Willensbildung zu belassen, deren genauen Ziele und Hintergründe wir nicht kennen. Für den es keinen Endplan, sondern nur mehr oder weniger langfristige Lebensziele gibt.
Wer die Gleichsetzung aus Freiheit und vernunftgemäßem Willen vornimmt, wer vernunftwidrige Willensakte mit Gesellschaftsfeindlichkeit zusammenbringt, wird in der Folge ein argumentatives Mittel in Händen halten, jeden Menschen zum Wohle der »richtigen« Freiheit zu angeblich objektiven gesellschaftlichen Zielen zu zwingen. Er wird zu einem Pflichtethiker, der die Moral über die Freiheit stellt.
3. Die durch Werte gebundene Freiheit
Ein letzter Zug dieser Vermischung aus metaphysischer und praktischer Freiheit findet sich bei Dierksmeier in der Vorstellung einer Freiheit, die sich erst durch moralische Selbstbindung entfaltet und konstituiert. Hier wird ein leicht verändertes Argument Kants verwendet. Die Behauptung lautet, dass zwar der Wille als Willensprozess amoralisch, also offen für jedwede Form von Moral sei, er aber im Handeln selbst, ein Ziel verfolge und damit über die Welt werte. Er damit eine moralische Einstellung zur Welt einnehmen müsse.
Doch hier wird Werturteil mit moralorientiertem Handeln verwechselt. Nicht jedes Werturteil ist moralischer Natur. Wenn ich einen roten Apfel einem grünen vorziehe, habe ich damit über die Welt gewertet, aber es wäre schwer daraus eine Moral zu formulieren, außer man folgte einem biozentrischen Weltbild, in dem ich nun die Würde des roten Apfels gegenüber dem grünen verletzt hätte. Moralorientiertes Handeln erleichtert meine Wahlmöglichkeit, weil ich mich einem einheitlichen Kodez gemäß richten kann, doch gibt es bisher keine in sich völlig konsistente Morallehre. Wo erst eine Lehre war, entsteht daher häufig eine Leere. Sie kann nur durch eine andere Moral ersetzt oder durch die Kraft der Willkür überwunden werden. Auch hier zeigt sich, dass das Verhältnis von Freiheit und Moral nicht umgekehrt werden kann. Erst müssen wir die Fähigkeit besitzen, frei zu handeln und erst dann können wir dieses Handeln an Werten orientieren, denn wäre es so, dass erst durch Moral freies Handeln möglich würde, so wären wir erheblich unfrei in Situationen, in denen wir nicht wissen, was moralisch geboten ist. Aber auch dort entscheiden wir nicht einfach unseren Trieben gemäß, sondern können Argumente abwägen, ohne deshalb einen moralischen Willen zu entwickeln. Dieser Zug wird in der politischen partizipativen liberalen Praxis, die Dierksmeier vorschlägt noch relevant werden. Versuchen wir nun erst einmal das Verhältnis der metaphysischen zur philosophischen Freiheit sauber zu bestimmen, um dann Dierksmeiers Liberalismus-Punsch besser auseinanderdividieren zu können.
4. Die philosophische Freiheit
Aus analytischer Perspektive stellt sich das Verhältnis aus metaphysischer Freiheit und philosophischer Freiheit wie folgt dar. Die metaphysische Freiheit postuliert einzig und allein das Vermögen, den Willen frei bestimmen zu können, insofern als das Wollen vom Denken abhängt und nicht von äußeren oder körperlichen Einflüssen vollständig determiniert wird.
Die philosophische Freiheitsdiskussion steigt nun an dem Punkt ein, an dem es um die vielfältigen Gelegenheiten zur Freiheit geht. Unter welchen Umständen, mit anderen Worten, hat der Mensch mehr Möglichkeiten seine Freiheit zu entfalten? Was kann gesellschaftlich getan werden, um die metaphysische Freiheit tatsächlich wirklichkeitswirksam werden zu lassen? In diesem Sinne ist sie objektiv. Sie erweitert sich zum philosophischen Liberalismus, wenn sie eine zusätzliche Tatsache sowie zwei Werturteile als Basis ihrer Untersuchungen akzeptiert:
- Tatsachenbehauptung: Der Mensch besitzt nicht nur die potenzielle Fähigkeit zur Freiheit, sondern auch einen intrinsischen und unauslöschlichen Drang nach Freiheit.
- Es ist das wichtigste ethische Gebot, es den Menschen zu gestatten, diesem Drang nach Freiheit nachgehen zu können.
- Alle Menschen haben es gleichermaßen verdient, Gelegenheit zur Freiheit zur erhalten.
Ab diesem Zeitpunkt ist der philosophische Liberalismus natürlich nicht mehr objektiv, sondern an gewisse Werte und Postulate gebunden, so wie man die metaphysische Position, dass es Freiheit als Vermögen gibt, den metaphysischen Liberalismus nennen könnte, der ebenfalls nicht objektiv, sondern von seinen Postulaten abhängig ist. Der metaphysische Liberalismus ist zwar per definitionem durch Erfahrung nicht falsifizierbar, allerdings können die Thesen mit der Empirie stimmiger oder weniger stimmig ausgeführt werden. Sie können pausibel oder unplausibel sein. In der Freiheitsmetaphysik wird sozusagen oberhalb der Empirie mithilfe von Ideen die Empirie selbst diskutiert und strukturiert. Der philosophische Liberalismus hingegen ist weitaus abhängiger von Erfahrung. Was in seiner Geschichte häufig als apriorische Deduktion aus dem Lehnstuhl heraus ausgegeben wurde, war in Wahrheit nur mithilfe von erfahrungsbasierten Studien ausformulierbar. Der philosophische Liberalismus versucht jene Institutionen und Ideen zu diskutieren, die der Mensch sich erschaffen, mit denen er mithin bereits Erfahrungen gesammelt hat und sie daraufhin abzuklopfen, ob sie die Gelegenheiten zur Freiheit eher erhöhen oder verringern. In diesem Sinne ist beispielsweise Hobbes Leviathan zu lesen. Es handelt sich dabei um eine erfahrungsbasierte Studie darüber, dass das Gewaltmonopol die erste und wichtigste Institution zum Schutz der Freiheit darstellt. Das Gewaltmonopol wird hier deshalb als die erste Institution der Freiheit angesehen, weil sie zeitlich und logisch in einer Zivilisationsgeschichte steht. Ohne ein Gewaltmonopol, so die bisherige Menschheitserfahrung, die bis heute immer wieder bestätigt wurde, zerfällt die Gesellschaft in Banden und Clans, die sich gegenseitig befehden und in einen Krieg aller gegen alle eintreten. Nur mit einem Gewaltmonopol sind die Konflikte zu beenden, die Gewalt zu mindern, ist ein ziviliertes Leben überhaupt möglich.
Die erste Dimension der Freiheit offenbart sich somit als Freiheit durch Sicherheit vor Gewalt. Das bestätigt, dass gesellschaftliche Freiheit immer erfahrungsgebundene Verhinderung von Unfreiheit ist. Wir können nicht aus dem Lehnstuhl heraus definieren, wie ein Leben in Freiheit aussieht, wenn wir nicht die vielfältigen Erfahrungen der Unfreiheit vor Augen haben und zu Rate ziehen können. Der philosophische Liberalismus hat hier eine Institutionenlogik aufgebaut, die in anderen philosophischen Strömungen ihresgleichen sucht. Keine andere Theorie ist in der Lage, unsere ausdifferenzierte Zivilisation derart genau zu beschreiben, wie es der Liberalismus tut. In dieser Kette stehen folgende Institutionen aufeinander:
- Gewaltmonopol
- Rechtsstaat
- Marktwirtschaft
- Repräsentative Demokratie
- Sozialstaat
Alle erfolgreichen Staaten heutigen Typs besitzen diese fünf Institutionen. Nun kommen wir aber zu einem Problem, das auch Dierksmeier entscheidend theoretisch prägt und würdigt. Aus dem philosophischen Liberalismus kann man keine direkte Politik ableiten. Die Philosophie diskutiert die Institutionen der Freiheit nur als Ideen, sie untersucht ihre Institutionenlogik, ihre Prinzipien und versucht zu verstehen, wie diese Institutionen zusammenspielen oder ob sie durch neue Überlegungen in ein besseres Gleichgewicht geführt werden können. Aber die Philosophie endet, sobald die Idee einer Institution tatsächlich in die Wirklichkeit übersetzt werden soll. Was wir in der Liste bspw. als Rechtsstaat bezeichnet haben, müsste man eher die Idee des Rechtsstaats oder das Rechtsstaatsideal nennen. Denn in der wirklichen Welt gibt es viele Möglichkeiten, diesem Ideal zu entsprechen. Die meisten Staaten geben sich eine Verfassung und ein Verfassungsgericht, in Großbritannien aber z.B. konnte man bis heute darauf verzichten und trotzdem würden wir sagen, dass Großbritannien ein Rechtsstaat ist. Es gibt daher nicht nur eine Form des Rechststaates. Es gibt nicht nur eine einzige richtige Möglichkeit der repräsentativen Demokratie, sondern viele. Dierksmeier nennt diese Unterscheidung zwischen Idee und Realisierung einer Idee, in kantianischer Tradition das Auseinanderfallen von (philosophischer) Idee und (politischem) Begriff. Eine Absage an die Arroganz von Philosophen, die meinen, aus dem Lehnstuhl heraus ein Patentrezept für die Probleme unserer Zeit in der Tasche zu haben, ohne auch nur einen blassen Schimmer von den empirischen Gegebenheiten und der Komplexität unserer Gesellschaft besitzen zu müssen. In diesem Punkt ist Dierksmeier hochaktuell und löst ein noch unbeachtetes Potenzial des kritischen Rationalismus ein. Aber durch Dierksmeiers viel zu voraussetzungsreiche und problematische Metaphysik wird sein eigentlich gelungener Grundgedanke eines nahezu objektiven Freiheitspostulats und einem darauf aufbauenden für die Masse der Menschen unbestreitbaren und zustimmungsfähigen philosophischen Liberalismus vertan. Denn der Grundzug einer Theorie, die bestätigt, dass der Liberalismus, philosophisch gesehen, die Lehre der Freiheitszugewinne schlechthin ist, und diese auch noch für alle Menschen einfordert, sowie die Idee, dass der politische Wettbewerb ein Wettbewerb um die Realisierung einer liberalen Ordnung oder einen offenen Gesellschaft sein sollte, weist in eine spannende Richtung. Aber auch hier vertut Dierksmeier eine entscheidene Chance die Philosophie des Liberalismus so objektiv wie nötig zu halten. Er versucht dann doch, aus dem Lehnstuhl heraus, bspw. zu bestimmen, ob „der Rechtsstaat nicht auch ein Sozialstaat sein [muss], um alle zu befähigen, von den ihnen zustehenden Freiheiten auch Gebrauch machen zu können?“ Für ihn spricht für unsere heutige Zeit „einiges dafür“. So pauschal kann ein philosophischer Liberalismus, der sich seiner kritischen Rolle bewusst ist, nicht urteilen. Ob ein Sozialstaat möglich, notwendig, anwendbar ist, kann nur im Einzelfall und im Hinblick auf eine bestimmte Gesellschaft diskutiert werden, bei der es kein apodiktisches Urteil, sondern nur Hypothesen zum Freiheitsgewinn gibt. Bspw. wäre eine allgemeine Grundsicherung in Indien zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich nicht finanzierbar, wohingegen eine Grundversorgung mit Bildung sehr wohl im Bereich des Möglichen läge. Um zu diskutieren, ob der Sozialstaat überhaupt, dass heißt von der Idee her, einen Beitrag zu einem Freiheitsgewinn leisten kann, muss man seine konkreten Teilmomente untersuchen und auf Freiheitsgewinne hin abklopfen.
Der heutige Sozialstaat hat drei grundlegend verschiedene Elemente. Das erste ist das Ausgleichen von Situationen, bei denen Menschen in große Not geraten. Die Grundsicherung soll verhindern, dass niemand verhungern muss, der aus nicht selbstverschuldeten Gründen in Armut fällt. Es ist eine Ausnahmeregelung des Leistungsprinzips und des Eigentumsrechts. Es wird aus der Erfahrung heraus gewährt, dass in einer ausdifferenzierten Marktwirtschaft die lokalen Familienbanden und früheren nachbarschaftlichen Hilfsnetze versagen können, aufgrund der zunehmenden Abstraktheit der meisten Beziehungen zwischen den Bürgern. Allerdings muss ganz klar sein, dass hier eine Wertung zwischen den Freiheitschancen zweier Gruppen abgewogen werden. Denn den einen werden Chancen zur Gelegenheit ihrer Freiheit genommen, weil sie die Grundsicherung und die Hilfe für die anderen bezahlen müssen und den anderen wird die Chance gegeben, auch ohne ein Markteinkommen, das Überleben zu sichern. Weil der erste Freiheitsverlust als vergleichsweise klein und der zweite Freiheitsgewinn als unbestreitbar hoch und existenziell bewertet wird, erhält diese Institution große Zustimmung. Aber dass es eine klare Abwägung und philosophisch gesehen, eine höchst schwierige Aufrechnung von Verwirklichungsmöglichkeiten ist, sollte schon einmal gesagt werden.
Das zweite Moment des Sozialstaats sind seine Sozialversicherungssysteme, in denen sowohl klassische Versicherungsarbeit als auch Umverteilungen zwischen bestimmten Gruppen zur höheren gesundheitlichen oder rententechnischen Versorgung organisiert wird. Hier haben wir also ein Mischsystem aus marktfinanzierter Versicherung, mit zum Teil erzwungener Mitgliedschaft, und umverteilenden Momenten, aufgrund von Not und Leidenssituationen wie schlimmen Krankheiten oder Pflegeaufenthalten. Inwiefern welche Regelungen notwendig sind, müsste in einem ausdifferenzierten Debattenbeitrag erörtert werden, der sich stark an den empirischen Wirklichkeiten orientiert. Dass es philosophisch möglich ist, dass dort Freiheitsräume erhöht werden könnten, ist doch eine Binsenweisheit, die nicht ernsthaft als wichtiger Beitrag der Philosophie gesehen werden kann.
Das dritte Momentum besteht aus der Finanzierung öffentlicher Güter zur Steigerung der meist beruflichen Chancenerhöhung breiter Schichten. Hierzu gehört das Bildungswesen, die staatlich geförderten Ausbildungen, aber auch Institutionen wie Museen, Bibliotheken und Forschungsstätten. Diese Institutionen sind eher eine Art Umverteilung über die Zeit, ein zweiter Generationsvertrag. Denn im Optimalfall zahlen die Bürger später nach ihrer Ausbildung über die Steuern eben jene Ausbildungskosten in das staatliche System wieder ein, das sie vorher aus ihm herauszogen. Dabei muss nicht jeder einzelne exakt seinen Betrag wieder einzahlen. Es genügt, wenn im Ganzen jene Kosten wieder eingespielt werden. Weil Bildung ein so schwer marktgängiges Gut darstellt und es heutzutage den Aufstieg in entscheidender Weise bestimmt, kann man auch hier sicherlich plausibel für diese Umverteilung an Chancen plädieren.
Eine solche Differenzierung der Institutionen sucht man bei Dierksmeier allerdings vergeblich. Er spricht von sozialen Rechten, die man sich sofort theoretisch einkaufen kann, sobald nur gedanklich erwiesen scheint, dass solche sozialen Rechte einen Beitrag zur Freiheit leisten könnten. Dass jede Institution sich erweisen muss und nicht automatisch solche Bürger das Recht auf ihrer Seite haben, denen man durch eine Institution die Freiheitsräume erhöhen kann, sondern dass diese argumentieren müssen, warum es wichtig genug ist, dass dafür Mittel aufgewendet werden, findet sich bei Dierksmeier nirgends. Eine Moralisierung genügt, das Aufweisen der Möglichkeit von der staatlichen Erhöhung von Freiheitsräumen und schon kann per Zwang durchregiert werden.
5. Die politische Freiheit
Wo beginnt nun der Raum des Politischen? Wie wir schon anrissen, kann Dierksmeier plausibel aufzeigen, dass das politische Geschäft ein politisches Ringen um die Realisierung freiheitserhöhender Institutionen sein sollte. In diesem Sinne könnten Parteien sinnvoll in einen Wettbewerb der Ideen treten, bei dem keine Partei für sich allein beanspruchen könnte, die eine liberale Partei zu sein. Vielmehr wären alle liberal, nur mit unterschiedlichen Mitteln versehen, um dasselbe Ziel zu erreichen. Soweit sogut. An dieser Stelle will Dierksmeier allerdings dem Kulturrelativismus bereits vorauseilend die Luft rauben, der sofort eine Diktatur des westlichen Lebensstils in eine solche Ableitung hineinlegen würde. Das liegt natürlich daran, dass Dierksmeier die Werturteile und die postulierte Tatsachenbehauptung des philosophischen Liberalismus nicht offenlegt. Denn in unserer Kritik an diesem Modell müsste man tatsächlich herausstellen, dass ein solches Politikmodell nur akzeptiert werden sollte, wenn man die Grundprämisse teilt, dass es eine metaphysische Freiheit gibt, die noch zusätzlich von einem Drang nach Freiheit begleitet wird, der allen Menschen zu eigen ist und dass dieser Drang die Klammer des Gemeinwesens bildet. Nämlich das gemeinsame Streben nach Freiheit. Menschen, die diese Prämissen nicht akzeptieren, überzeugt man nicht mit einer Metaphysik, die ihnen sagt, dass sie doch sowieso nach dieser Freiheit streben müssen. Nein, in diesem Sinne ist der Liberalismus tatsächlich eine Lehre, die viel argumentative Kraft hat, aber nicht unabhängig von allen Urteilen für gültig befunden werden muss. Wer bspw. das Werturteil verneint, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Verwirklichung ihrer Freiheit besitzen, wird sich nicht auf das Modell einer offenen Gesellschaft einlassen. In diesem Sinne gibt es tatsächlich einen Clash of Cultures, eine Grenze zwischen jenen Gesellschaften, die die Freiheit zum obersten Prinzip ihres Lebens erheben und damit ihre Konflikte auf eine Wertbasis stellen können, die allgemeine Zustimmung erfährt und jenen Gesellschaften, die dogmatisch andere Werte an oberste Stelle setzen müssen, von denen bisher noch keine zu einer solch ausdifferenzierten und friedlichen Gesellschaft geführt hat, wie der Liberalismus. Dierksmeier hat allerdings recht, wenn er sagt, dass innerhalb der liberalen Klammer, ganz unterschiedliche Kulturen entstehen können, die alle freiheitlich zu nennen sind. Welche Sprache man spricht, welche Benimmregeln und Traditionen gepflegt werden, wird vom philosophischen Liberalismus nicht festgelegt, solange diese Praxis irrelevant für das Faktum Freiheit ist. In diesem Sinne kann sich sehr wohl ein Kulturrelativismus herausbilden, der die Freiheit aufgrund der Wahlmöglichkeiten erhöht.
Allerdings thematisiert Dierksmeier überhaupt nicht die aktuelle Praxis der Demokratie, bei der Parteien sowohl die Freiheit als Grundkonsens akzeptieren als auch immer wieder mit anderen als absolut gesetzten Werten in Frage stellen. Gerade zum Ende hin seines Buches grenzt sich Dierksmeier viel zu unscharf von biozentrischen Harmonieumweltideologien auf der einen und konsumfeindlichen pietistischen Strömungen auf der anderen Seite ab. Weil es auch in Umweltfragen irgendwie um Freiheit gehen kann, wann und inwiefern genau verrät uns Dierksmeier nicht, so dass wir nicht wissen, welche Umweltziele liberal und welche illiberal sind, postuliert Dierksmeier auch hier einen Konsens zwischen Liberalen und Ökologisten. Nehmen wir hier das Beispiel von Energieträgern. Warum sollten bestimmte Energieformen an sich von Übel sein, wie es die Grünen für die Kohle- und Kernkraftenergie behaupten? Warum sollte es dort nicht auch einen klaren Wettbewerb statt Subventionen geben, wie es die FDP fordert? In all diesen Fragen, in denen Ökologie und Freiheitsdebatte keineswegs einfach in Harmonie verharren, liefert uns Dierksmeier keine Antworten. Bei ihm hat es vielmehr den Anschein, als würde die partizipative Demokratie automatisch den Freiheitsgebrauch rechtmäßig regulieren, und damit zu einer Harmonie der Interessen führen. Dass hier allerdings beständig eine Bedrohung der Freiheit durch inkonsistente Morallehren droht, die sich über die Freiheit erhaben fühlen, sieht er nicht.
Nehmen wir das Beispiel der Abschreckungsbildchen auf den Zigarettenschachteln. Hier wird der zweifelhafte Wert einer als absolut gesetzten aber nicht definierbaren Gesundheit über die Freiheit der Konsumenten und Produzenten gestellt. Im Gewandt der Freiheit wird behauptet, nur wer das Rauchen lässt, sei frei. Der andere sei manipuliert, von seinen Süchten regiert und Unternehmen, die mit den Süchten ihrer Kunden Geld verdienten, müssen an den ethischen Pranger gestellt werden. Sie haben sich ihren Proft ergaunert, nicht verdient, da ihre Produkte unnötig und zerstörerisch seien. Sie sind von Übel wie der jüdische Zinswucherer des Mittelalters. Seltsamer Fortschritt, dem Dierksmeier hier implizit das Wort redet.
6. Die böse Werbung
Ein weiteres anschauliches Beispiel dieser Blindheit zeigt sich bei Dierksmeiers Besprechung des Ökonomen John Galbraith. Dieser kritisiert stark die Werbeindustrie als freiheitsfeindlich. Dazu Dierksmeier: „So wird Konsumentensouveränität […] untergraben; einmal, offensichtlich, bei der einzelnen Kaufentscheidung: Wenn etwa ein einkommensschwacher Bürger zu der Überzeugung gelangt, seine begrenzten finanziellen Mittel statt auf gesunde Nahrung lieber in eine Designersonnenbrille zu investieren, befriedigt er auf Kosten natürlichen Bedarfs ein künstlich geschaffenes Bedürfnis.“
Hier haben wir sie wieder. Die alten antikapitalistischen Vorurteile. Zum ersten ist nicht klar, wie man zwischen natürlichen und künstlichen Bedürfnissen des Menschen sauber trennen kann. Denn auch das angeblich künstliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung durch Markenmode folgt einem natürlichen Instinkt. Was genau „gesunde Nahrung“ sein soll, ist ebenso fragwürdig, weil das noch nicht einmal Ernährungswissenschaftler einheitlich sagen können. Vielmehr ist für jeden Menschen eine andere Nahrung körperlich förderlich. Vielmehr ist wichtig festzustellen, was für den eigenen Körper eine gelungene Ernährungsbasis darstellt und wie viel Genuss mit wie viel Einschränkungen an organischen Verbrauchs einhergeht. Denn schlussendlich muss jedes komplexere (organische) Leben seine eigenen Organe mit der Zeit verbrauchen. Jeder Tag, an dem sich der Stoffwechsel vollzieht, ist ein verlorener Tag für unseren Körper, egal wie viel oder wie wenig oder wie angeblich gesund wir essen. Dierksmeier ist nun aber in Rage und wir ersehen das wahre Gesicht angeblich objektiv-transzendentaler Freiheit:
„In einer Gesellschaft, in der alle öffentlichen Räume von Botschaften überflutet werden, die im Konsumieren die Antwort auf alle Lebensfragen versprechen, hat es ein an Wahrhaftigkeit ausgerichteter Diskurs um das gute Leben schwer. Dies untergräbt die kulturellen Voraussetzungen moralischer und politischer Autonomie. Zudem ruiniert die Verstellung aller natürlichen wie künstlichen Räume mit Konsumapellen die Chancen einer in humaner Ästetik gestalteten Lebensumwelt. Je mehr wir unsere Lebenswelt dem Diktat kommerzieller Bedürfnisse, bequemen Konsums und effektiver Produktbewerbung unterwerfen, desto hässlicher wird sie; ein grässlicher Troll, der da im Gewande wirtschaftlicher Freiheit daherkommt.“
Die wahre Freiheit kann nur von Morallehren außerhalb der strikten Freiheit zur Selbstbestimmung gefunden werden. Die schnöden Konsumziele der Masse der Menschen werden abgewertet gegen einen angeblich notwendigen Weg zum wahren und ehrlichen Leben natürlicher Harmonie. Dass eine schöne Umwelt genauso ein Konsumgut ist, Städte wie Venedig oder Florenz aus purem Genuss am Luxus derart wunderschöne Architektur vorzuweisen haben, es also der Stolz und das Zeigen der eigenen Dekadenz war, der die Kaufleute dazu veranlasste, ganze Städte aus Säulen und Marmor zu bauen, vergisst Dierksmeier hier. Man muss sich solche öffentlichen Räume eben leisten können. Sobald Gesellschaften reicher werden und gleichzeitig demokratisch sind, präferieren sie eben häufig Krebsforschung und breite Streuung öffentlicher Güter vor vergoldeten Prunkbauten und endlich »ästhetischen« Lebensumwelten a la Dierksmeier. Das Bild eines Bürgers, der durch seinen noch unbedarften Eichenwald schreitet, ein Gedicht in Händen und mit Bioessen im Rucksack, das ist das Idyll der moralisierenden Träumer im Umhang liberalen Denkens. Die Freiheit wird hier insofern erlaubt, als sie unter der Fuchtel beliebiger Morallehren steht. Dass hier ein Konflikt besteht, in dem eine Mehrheit jeweils eine Minderheit zu den von ihnen präferierten Zielen wahrer Freiheit leitet und zwingt, stört Dierksmeier nicht. Die Leitlinie seiens Ethosinstituts wünscht sich sogar diese Rückmoralisierung des Öffentlichen, denn am Ende sagten alle großen Weltreligionen eigentlich das Gleiche. Wir haben es bisher in Jahrhunderten der Religionskriege nur noch nicht verstanden, was uns dort herabgesandt wurde. Vielleicht kann es uns Dierksmeier erklären, denn die Harmonie der Moral ist in seiner Theorie dringend notwendig, damit nicht auffällt, dass Gesinnungsethik und Freiheit eben doch häufig Antagonisten und keine Verbündeten sind.