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Andrè Kostolany – die Weisheiten eines Spekulanten

Der beste Plauderer der Weltgeschichte

Manche Autoren vermögen es einfach, eine bereits untergegangene Welt zum Leuchten zu bringen. Nicht nur Stefan Zweig mit seinem unvergleichlichen Werk „Die Welt von Gestern“ konnte auf diese Weise schreiben. Unterschätzt und heute fast vergessen, ist ein anderer Autor: Andrè Kostolany, der Held meiner Kindheit. Er vermochte es, so geschickt kleine Figuren, Anekdoten und Erzählungen aneinander zu reihen, so dass man am Ende nicht immer wusste, was entsprach noch der Realität und was der Phantasie des Autors.

Der 1906 in Budapest geborene und aus einer jüdischen Industriellenfamilie stammende Ungar verband Welten. Er machte die Börse zum Thema humoristischer Essays und lehrreicher Geschichtsstunden. Bei ihm waren Diskussionen über Aktienkäufe und Hedgefonds keine Vorträge mit unübersichtlich gefüllten Excel-Tabellen und kleinkarierten Kurs-Gewinn-Berechnungen, sondern sprachlich elegante Erzählungen, die vom Mensch-sein an sich berichteten.

Kostolany war ein Weltbürger. Die Kindheit verlebte er in Budapest, die Jugend in Paris, das mittlere Alter in New York und den Lebensabend genoss er in München und an der Côte d’Azur gleichermaßen. Er kannte die ganze Welt, bevor Massentourismus und Instagram-Idiotie Strandportraits in jedes Wohnzimmer brachten. Er war Kosmopolit und überzeugter Europäer. Er sprach vier Sprachen fließend und genoss in vollen Zügen sein Dandy-Dasein. Und dabei war er immer humorvoll. Um seine Sprachbegabung mitzuteilen, pflegte er zu sagen:

„Ich bin heute in zehn Städten zu Hause, spreche vier Sprachen: Ungarisch mit dem lieben Gott, Französisch mit meinen Freunden, Englisch mit den Bankiers, Deutsch mit meinen Schülern und alle vier mit den Damen.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 455.

Er wurde einmal der beliebteste Plauderer der Weltgeschichte genannt. Das war in der Tat seine beste literarische Form: der frei schwebende und thematisch nicht geordnete Essay als gehobene Kaffeehaus-Plauderei. Dabei immer Psychologie, Geschichte, Wirtschaft und Kunst ineinander vermengend. Zum Lehrer war er wohl geboren, aber von den offiziellen Lehranstalten blieb er ausgeschlossen. Kostolany war auch ein Außenseiter und Querkopf. Ein Querulant, der seinen gesamten Lebensstil nicht an dem Wohlwollen der Mehrheitsmeinung ausrichtete, sondern stets seinem Eigensinn und seinem Instinkt folgte. Seine Leidenschaft galt der Börse und der mit ihr einhergehenden Spekulation. Schon als er acht Jahre alt ist, berichtet er, wie er zum ersten Mal die zerstörerische Wirkung der Spekulation zu spüren bekam. Es war das Jahr 1914 und sein Bruder hatte sich, mit der Unterstützung einiger Freunde, in einer gewagten Rohstoff-Spekulation engagiert. Er rechnete damit, dass durch den Kriegseintritt des Deutschen Reiches die Lebensmittel und überhaupt alle Güter des täglichen Bedarfs knapp werden und deshalb ihr Preis steigen würde. Besonders Raffia, Bambusfasern, die man in Ungarn zum Weinanbau gebrauchte, waren zu dieser Zeit für eine solche Operation in Mode. Sein Bruder spekulierte also mit all seinem Hab und Gut – und sogar noch mit Schulden – auf steigende Raffia-Preise. Doch dann geschah die Tragödie:

„Das Glück schien zuerst der Raffiafaser hold zu sein. Der Krieg brach aus, und ihr Preis schnellte wie ein Pfeil in die Höhe. Doch die Kriegsnachrichten machten den jungen Spekulanten einen Strich durch die Rechnung. Und zwar einen Dicken. Die österreichisch-ungarische Armee stieß blitzschnell tief nach Serbien vor, gleichzeitig gelangten die deutschen Truppen bis an die Marne. […] Die Raffiakurse begannen zu gleiten.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 487.

Der Bruder gerät in Panik und wird von Tag zu Tag depressiver, weil er weiß, dass sein Vater ihn nicht für diese ungeschickte Tat aus der Affäre ziehen möchte. Er solle lernen, Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen. Aber die Lage ist aussichtslos, die Verluste werden von Tag zu Tag größer. Um die Familienehre zu retten, spricht der Bruder zunehmend von Selbstmordgedanken. Zum Glück besinnt sich der Vater dann doch eines Besseren und bezahlte lieber die Schulden seines Sohnes, als diesen aufgrund einer erteilten Lektion zu verlieren. So konnte eine Familientragödie abgewendet werden. Doch die Pointe der Geschichte lautet: Sobald sich das Kriegsgeschehen wenige Monate später drehte, kam es tatsächlich zu einem rasanten Preisanstieg des Raffia. Doch nun war es zu spät. Kostolany räsoniert:

„Die handelnden Personen, meine Eltern, mein Bruder, sind längst alle tot. Die Raffiaspekulation erscheint mir heute so winzig, so simpel im Vergleich zu den gigantischen Spekulationen an den Weltmärkten (der damals erwartete Gewinn entspräche heute dem Gegenwert eines Abendessens in New York). Aber ich fühle heute noch den Schreck von damals in den Knochen: Er blieb mir ein Memento fürs Leben, ein Memento für meine Spekulationen.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 488.

Kostolany kommt nach Paris – ein Fest fürs Leben

An der Börse sei eben nicht alles sofort logisch, wie Kostolany stets zu sagen pflegte. Zwei plus zwei sei an der Börse nicht gleich vier, sondern fünf minus eins. Erst komme eine unvorhersehbare Imponderabilie dazwischen, bevor sich jene Tendenz oder jene Entwicklung durchsetzen kann, die logisch und nachvollziehbar ist. Mit achtzehn Jahren hat Kostolany die Spekulation und die Börse, die ihn in seiner Kindheit bereits begleitet, längst vergessen und studiert Kunstgeschichte und Literatur an der Budapester Universität. Ein Freund seines Vaters kommt über den Sommer zu Besuch, der an der Pariser Börse als Makler arbeitet. Als er erfährt, dass der junge Kostolany Kunstgeschichte studiert, ist er entsetzt und fragt: „Ja will der Junge denn Poet werden? Schicke ihn lieber zu mir in die Lehre, da kann er mehr lernen.“ Kostolany erzählte später immer wieder, wie unwirklich die Frage seines Vaters gewesen sei, ob er denn nach Paris gehen wolle? Das wäre eine Frage gewesen. Welcher junge Mann wollte zu dieser Zeit nicht nach Paris! Er nahm das Angebot selbstverständlich an.

„Ich kam in eine Stadt, die damals der Mittelpunkt der Welt war. Diese Stadt war phantastisch, ein gigantischer Lunapark. Alles war voll mit Waren, mit Luxus. Dieser Luxus und die Lust am Leben waren überall spürbar. Paris… »J’ai deux amours, mon pays et Paris.« Ich habe zwei Lieben, meine Heimat und Paris. Die Bananen-Colliers einer bezaubernden Tochter der Antillen, Josephine Baker, wippten den Takt zu diesem Lied, das ich zu meinem Glaubensbekenntnis gemacht habe.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 265.

Er habe sich wie ein Kind gefühlt, dass sich seine Nase an der Fensterscheibe einer Konditorei plattdrückt. Nur eines fehlte ihm, um nach diesem Leben voller Freuden und Annehmlichkeiten zu greifen: Geld. Doch die Börse bot im Jahr 1929 ungeahnte Möglichkeiten. Kostolany erkennt früh die Überhitzung des Marktes und wettet, allen Versprechungen und guten Ratschlägen seiner Freunde und Vorgesetzten zum Trotz, gegen die allgemeine Aktien-Euphorie. Er habe diese Entscheidung damals nicht aus technischen oder wirklich sachlichen Gründen getroffen, denn für diese sei er noch zu unerfahren gewesen. Aber allein, mit welch abstrusen Argumenten die Leute ihre Aktienkäufe rechtfertigten, was für Firmen aus dem Boden schossen, bei denen niemand genau wusste, was sie eigentlich herstellten, das habe ihn misstrauisch gemacht; und seinen Sinn für das Non-Konforme angesprochen. Er wird also Baissier, wie man an der Börse sagt. Er spekuliert auf fallende Kurse – und gewinnt. Er gewinnt sogar im großen Stil, denn der Aktiencrash der 1930er Jahre wächst sich zur Krise des Jahrhunderts aus. Kostolany wird zu einem wohlhabenden jungen Dandy. Doch auch der gute Kosto, wie in Freunde später nannten, musste lernen, dass Geld und Gewinn, wenn er auf Kosten anderer erfolgt, nicht glücklich macht.

„Da ich jetzt die Mittel dazu hatte, wollte ich auch die Annehmlichkeiten des Lebens genießen. Dabei machte ich aber eine peinliche Entdeckung. Mein philosophischer Rationalismus und mein Börsenspürsinn hatten dazu geführt, daß ich viel verdiente, während die anderen verloren. Ein Vers von Wilhelm Busch kam mir damals oft in den Sinn: »Höchst fatal, bemerkte Schlich, hehe – aber nicht für mich.« Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen, aber das Schauspiel, das ich vor Augen hatte, betrübte mich aufs Höchste. Meine Freunde, meine Kameraden, alle, die ich gern hatte, waren ruiniert. Sie hatten in dieser Krise entweder ihr Geld oder ihre Stellung verloren und wussten nicht, was ihnen die Zukunft bringen würde. Ich hingegen konnte mir jetzt jeden Luxus leisten, jedes Vergnügen, von dem ich je geträumt hatte. Die eleganten Hotels und Restaurants, ein Auto mit livriertem Chauffeur, alles stand mir offen, denn meine Brieftasche war gefüllt, aber – und jetzt kommt das große ABER – die anderen waren nicht dabei. Die gute Atmosphäre war dahin, das fröhliche Lachen verklungen, an ihre Stelle waren Verbitterung und schlechte Laune getreten. Ich war allein, allein mit mir selbst. Überall wurde etwas zum Verkauf angeboten, aber ich hatte keinen Spaß mehr am Kaufen. Ich begriff, daß Champagner und Kaviar kein Vergnügen machen, wenn die Freunde sich mit einer Tasse Kaffee begnügen müssen. Ich wagte nicht, glücklich zu sein, und konnte es auch gar nicht sein. Ich kam mir schlechter vor als ich war.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 698f.

Doch es waren noch zwei einschneidende Erfahrungen notwendig, um aus Andre Kostolany, dem pessimistischen und eine diebische Freude an dem Scheitern anderer empfindenden Spekulanten, den Optimisten und nur noch auf steigende Kurse setzenden Börsianer seiner späteren Jahre zu machen. Zuerst erwies sich seine zunehmende Arroganz zu Beginn der 1930er Jahre als brandgefährlich. Sie zog mehr und mehr Missgunst und Neid anderer an. In diesen Jahren pflegte er in einem Restaurant direkt gegenüber der alten Börse in Paris „Hof zu halten“. Umschwärmt von Freunden und Bewunderern, zog er die volle Aufmerksamkeit auf sich. Er tagte nicht in der Börse, da Ausländern damals das Betreten verboten wurde, aus Angst, sie würden durch Spekulation gegen die Staatsrenten Frankreich ruinieren. Das alte Klischee von den gierigen Ausländern, die unpartiotisch gegen ihre Wahlheimat spekulierten, gab es nicht nur im Dritten Reich. Das machte sich ein Bekannter Kostolanys zu Nutze, um ihm zu schaden.

„[…E]bendiese fixe patriotische Idee machte sich ein kleiner französischer Jude, er hieß Israel, zunutze. Er saß oft am Nebentisch und verfolgte voller Neid das große Leben, das ich führte, belauschte meine Triumpfgesänge und beobachtete die Bewunderung der anderen. Er zeigte mich an. (Daß er es war, habe ich erst viel später erfahren.) Ich würde angeblich gegen die französischen Rentenpapiere spekulieren, gegen den Staatskredit, gegen Frankreich.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 274.

Daraufhin wurde Kostolany verhaftet und sollte binnen 48 Stunden Frankreich verlassen. Völlig verzweifelt wand er sich an seine Freunde. Einer von Ihnen kannte über seinen Vater den ehemaligen Justizminister Anatole de Monzie, der ungarischen Einwanderern gegenüber freundlich gestimmt war. Der Freund arrangiert ein Treffen mit Monzie. Kostolany kann ihn von seiner Unschuld überzeugen, doch Monzie kann ihm nicht garantieren, dass er bleiben kann. Kurz bevor Kostolany schon den Zug Richtung Belgien besteigen will, ruft ihn die Sekretärin von Monzie zurück. Der aktuelle Justizminister habe die Haltlosigkeit der Anschuldigungen erkannt, wolle aber kein zu großes Aufsehen erregen, indem er das Urteil einer untergeordneten Dienststelle aufhob. Kostolany durfte bleiben, allerdings musste er ein Jahr lang mit einem schwebenden Aufenthaltstitel in Paris leben und wurde erst danach rehabilitiert. Eine Ironie der Geschichte ist, dass Kostolany, damals als Staatsfeind Frankreichs angeklagt, nach dem Krieg und seiner Rückkehr aus den USA in Paris von Präsident de Gaulle zum Ritter der französischen Ehrenlegion geschlagen wurde. Trotz allem blieb die Episode für Kostolany eine anschauliche Lektion darin, es mit der eigenen Überheblichkeit nicht zu weit zu treiben. Es war also nicht nur unschön, recht zu behalten und zu gewinnen, während alle anderen verloren, es war auch gefährlich.

Das zweite Ereignis hatte mit dem Skandal um den Industriellen Ivar Kreuger zu tun. Kreuger besaß damals ein weltumspannendes Firmenimperium, das sich in mehreren Ländern ein Monopol auf die Streichholzproduktion gesichert hatte. Als Gegenleistung gab er vor allem den nach dem ersten Weltkrieg hochverschuldeten Osteuropäischen Staaten Kredite. Auch Deutschland war unter seinen Schuldnern. Eigentlich war das eine geniale Geschäftsidee. Schon die Fugger hatten im 16. Jahrhundert ähnliche Geschäfte mit den großen Monarchen Europas ausgehandelt. Je einträglicher das Monopolgeschäft war, das ihnen gesetztlich zugesichert wurde, umso besser. Dieses Geschäftsgebaren funktionierte allerdings nur dann gut, wenn der Finanzier des Staates selbst über fast unbegrenzte Mittel verfügte. Kreuger aber war selbst nicht liquide genug, um den Hunger ganzer Nationen nach Krediten zu stemmen. Also lieh er sich das Geld über Anleihen, die er auf den Namen seiner Firma emittierte. Große Banken liehen ihm damit Geld, damit er seinen Schuldnern Geld weiter verleihen konnte. Noch vorteilhafter war, dass würden die Staaten das Geld nicht zurückzahlen, er den Kreditausfall auf viele verschiedene Gläubiger verteilen konnte. Der Ausfall einer Anleihe war zu unbedeutend, um sein Geschäft insgesamt zu bedrohen. Ein Problem war aber, und das hatte Kostolany erkannt und war daher a la baisse positioniert, dass Kreuger nicht alle Anleihen unter das Publikum mischen konnte. Er blieb auf einem viel zu großen Berg seiner eigenen Anleihen sitzen und war dadurch unfreiwillig selbst Gläubiger von Deutschland, Rumänien und Ungarn geworden. Und es kam, wie es kommen musste. Die Staaten kamen ihren Verpflichtungen aufgrund der Wirtschaftskrise nicht mehr nach, die Investoren von Kreuger wurden unruhig und er vertröstete sie auf eine Sitzung im März 1932, an dem er alle Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen werde. Aber dazu kommt es nicht mehr. Er nimmt sich kurz vor der Sitzung per Schuss ins Herz das Leben. Das nahm Kostolany mit:

„Ich hatte wieder verdient. Doch diesmal auf Kosten eines Menschenlebens. Dieser Schlag traf auf einen psychisch bereits vorbereiteten Boden und verleidete mir die Baisse-Spekulation. Ich fühlte mich geradezu schuldig am Tod Ivar Kreugers. Jedenfalls hatte ich mir einen gewissen Mangel an Moral zuschulden kommen lassen.“

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 705.

Nach diesem Erlebnis wendete er sich endgültig von der Baisse-Spekulation ab und dem positiven Denken zu. Nur die Welt schien genau das Gegenteil zu vollziehen. Alle Anzeichen standen auf Krieg. Ein gewisser Herr Hitler war Reichskanzler geworden und drohte Frankreich mit einer Revanche. Kostolany hatte in weiser Voraussicht und aus Angst vor der Schließung der Börse all seine Geldvermögen nach Amerika transferiert. Und obwohl er den Krieg erwartete und keine Hoffnung hatte, er ließe sich verhindern, überraschte er ihn doch bei seinem Ausbruch:

„Doch eines Tages kam er [ein Börsenkollege – M.T] atemlos im Laufschritt zu mir, direkt in die Börse. Er zog mich beiseite, damit uns niemand hören konnte, und flüsterte mir mit einem zufriedenen Lächeln zu: »Jetzt helfen Sie mir, lieber Freund, sagen Sie mir, was ich schnell kaufen soll, da ich von einer stürmischen Hausse profitieren möchte.« Ich war ganz aufgeregt. »Ist Hitler vielleicht tot? «, fragte ich. »Aber nein, im Gegenteil, die Nazis stehen dreißig Kilometer vor Paris, in zwei Tagen sind sie hier, der Krieg ist praktisch zu Ende, die Kurse werden in die Höhe schnellen. Was muß man kaufen?« Was konnte ich darauf antworten? Für mich war eine Welt zu Ende. Die Börsenangestellten liefen herum, als wäre alles in bester Ordnung; aber ich wusste, daß übermorgen die Nazis und die Gestapo in Paris sein würden. Mir war, als hätte man mir mit einem schweren Hammer auf den Kopf geschlagen; alles begann sich zu drehen. Mein Freund bedrängte mich weiter, welche Papiere er kaufen solle. Ja, für ihn war alles in bester Ordnung. Hitler war da, mit all dem, was das bedeutete. Nur Pecrys Vorstellungen waren andere als die meinen. Selbst wenn ich ihm hätte antworten wollen, ich hätte es nicht gekonnt. Ich spürte einen eisigen Krampf im Herzen und lief schnell aus der Börse, sprang in ein Taxi und fuhr nach Hause. Ich sah mich in meiner Wohnung um, streichelte zum Abschied die mir besonders lieben Gegenstände, die ich zurücklassen mußte. Ich dachte, ich würde Paris nie wiedersehen, die Menschen, die ich lieb gewonnen hatte, meine Freunde, meine Kollegen, die vertrauten Straßen und Boulevards und vieles andere, was mir in meinem Leben etwas bedeutete.“

Die Kunst über Geld nachzudenken, München 2001, S. 207f.

Die Flucht

In einer gefährlichen Reise mit einem schnell angeheurten Fahrer und einem neu gekauften Wagen fährt Kostolany nach Vichy, um von dort aus nach Spanien zu gelangen und nach Amerika überzusetzen. In einem sehr bewegenden Interview mit Johannes Groß (Zeitzeugen des Jahrhunderts) schildert Kostolany, wie es war, auf dem Deck dieses Schiffes zu sitzen und nicht zu wissen, ob man die Küste Europas je würde wiedersehen können. Als er bei der Abfahrt auf dem Deck saß, konnte er sich daher nicht bewegen. Er blieb sitzen und sah Europa nach, solange es noch einen winzigen Küstenstreifen zu sehen gab. Erst als auch das letzte Bisschen der alten Heimat im Dunst verschwunden war, wäre er wieder zu sich gekommen. Das sei ein Bild gewesen, an das er sich bis heute erinnere.

Dass er überhaupt vor den Nazis fliehen konnte, verdankte er einer glücklichen Fügung. Die USA nahmen nämlich keine jüdischen Flüchtlinge auf, bei denen absehbar war, dass sie nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren würden, solange die Nazis an der Macht waren. Nach den Judengesetzen in Ungarn, das zu dem Zeitpunkt zwar mit den Nazis kollaborierte, aber noch nicht besetzt war, galt Kostolany jedoch nicht als Jude, sondern als getaufter Katholik, der jederzeit in seine Heimat zurückkehren könne. Nur aus diesem Grund konnte er die Überfahrt antreten. Wäre er drei Jahre später gekommen, hätte er kein Visum mehr erhalten.

Eine Krise, ein Sadist und eine zweite Karriere

In New York angekommen, hat Kostolany zwar sein Leben und sein Vermögen gerettet, doch die harten Zeiten gehen auch an ihm nicht spurlos vorbei. Er findet keine sinnvolle Betätigung für sich. Niemand will ihn hier anstellen, weil er bereits vermögend und auf das Einkommen nicht angewiesen ist. Er lebt das Leben eines Pensionärs, und das mit Mitte Dreißig! Er sei trotzdem jeden Morgen um 8 Uhr aufgestanden, schreibt er, drei Mal die Woche in die Oper gegangen und zwei Mal die Woche ins Kino. Zu Beginn gefällt ihm das treibende und hektische Leben in New York. Aber die Sprache bleibt ihm fremd, er kann nicht aufsteigen und die Mußestunden dehnen sich zu Ewigkeiten. Mit Anfang 50 wird er daher depressiv. Kostolany muss zum Psychologen:

„Als 35-Jähriger schon – meine erste Karriere war sozusagen vollendet – konnte ich mit dem Einkommen meines Kapitals in Ruhestand gehen. Doch ohne Aktivitäten und Sorgen wurde ich mit 50 neurotisch, mich quälten sogar Depressionen. In dieser Krise begann meine zweite Karriere als Finanzjournalist und Buchautor – dank eines Professors der Psychologie. Ich bat den berühmten Leopold Szondi, der in Zürich lehrte und praktizierte, um Rat. Er unterzog mich, seinem auch heute noch überall angewandten Szondi-Test: Ich mußte 48 Fotos auswählen und nach Sympathie und Antipathie sortieren, Szondi mischte die Karten erneut, und ich wiederholte die Übung mehrere Male. Dann begann er zu rechnen und zu kalkulieren, schließlich frage er mich unvermittelt: »Wer in Ihrer Familie war ein Sadist? Erschrecken Sie nicht, ich meine damit jemanden, der besonders viel Energie besitzt und leicht explodiert.« – »Natürlich mein Vater«, antwortete ich spontan, »er konnte schrecklich jähzornig sein. Meine Mutter war besonders sanft.« »Dann haben Sie die Natur Ihres Vaters geerbt. Sie haben sehr viel Energie in sich aufgestaut, die explodieren möchte, aber kein Ventil findet. Haben sie manchmal Wutanfälle?« Ich musste es zugeben. »Sehen Sie. Und da sie ein zivilisierter Mensch sind, kämpft Ihre Natur gegen den Ausbruch der aufgestauten Energie, es entsteht ein seelischer Konflikt. Wenn sie ein primitiver Mensch wären, würde ich Ihnen raten: Hacken Sie Holz, biegen sie Eisen, klopfen sie Steine! Wenn Sie in dem entsprechenden Alter wären, gäbe ich Ihnen die Empfehlung: Studieren Sie Chirurgie, da können sie schneiden. So aber rate ich Ihnen: Schreiben Sie! Was interessiert Sie besonders?«

Der große Kostolany, Ullstein 2003, S. 456.

Und so kam es dazu, dass Kostolany überhaupt auf die Idee kam, über seine vielen Abenteuer an der Börse zu berichten.

Kostolanys Feindschaft gegen die Wissenschaft

Kostolany war ein typisch verstreuter und unsystematischer Denker. Der britische Philosoph Isaiah Berlin sagte einmal, es gäbe zwei Arten von Denkern, Füchse und Igel. Füchse wüssten ganz viele kleine Wahrheiten, aber der Igel kenne nur eine große. Kostolany war mit Sicherheit ein Fuchs. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen Theorien jeder Art, die seiner Meinung nach der Komplexität der Wirklichkeit nicht entsprachen. Daher war er auch voller Wut vor den Volkswirten, weil er ihnen nicht zugestehen wollte, dass ihre Modelle eine zum Teil sinnvolle Reduktion der Wirklichkeit darstellten. Er wollte die Welt immer als das ungeordnete Treiben verstehen, das es für ihn war. Er brauchte keine letzten Theorien und Welterklärungen. Er konnte nicht genau sagen, warum er für eine sanfte Inflation eintrat und welche Notenbankpolitik tatsächlich theoretisch die beste sei. Er war pragmatisch und meinte, Inflation sei wie ein bisschen Nikotin oder Alkohol: In kleinen Dosen verkrafte man sie ganz wunderbar, sie seien sogar stimulierend. Man dürfe nur kein Kettenraucher oder Alkoholiker werden.

In diesen Dingen zeigen sich die Grenzen von Kostolanys Blick. Er will sich nicht mit abstrakten Theorien über die Welt aufhalten. Für ihn liegt die Wahrheit in den Anekdoten und Geschichten begraben, welche sich die Menschen seit jeher erzählen. Die großen Einsichten in das Leben sind für ihn nur in den praktischen Erfahrungen des Einzelnen zu finden und diese könne man nicht mitteilen. Man könne sie nur in den Geschichten, die man erzählt, hindurchscheinen lassen. Jemand, der die Erfahrung ebenfalls einmal machte, wird sie sehen, der andere wird sie übersehen und vielleicht später wiederentdecken, wenn er noch einmal über sie stolpern sollte.

Auch wenn man sich seine erfolgreichsten Spekulationen einmal genauer ansieht, fällt auf, dass er häufig deshalb so erfolgreich war, nicht weil er das Handeln von Marktakteuren so gut einschätzen konnte, das auch, aber vor allem, weil er ein Meister darin war, die politischen Ereignisse vorauszuahnen. Und da die Börsen in früherer Zeit noch viel stärker politisch bestimmt waren als heute, fiel das stark ins Gewicht. Bspw. kaufte er alte zaristische Anleihen, welche die Sowjet-Union als Nachfolgerstaat nie beglichen hatte, kurz vor der Wende auf, weil er an den Anstand und das politische Geschick Michael Gorbatschows glaubte. Russland wollte in den 1990er Jahren an die internationalen Kapitalmärkte und Kostolany war sich sicher, dass eine der Bedingungen, die Frankreich stellen würde, die Bezahlung der alten Anleihen seien würde. Denn viele Franzosen waren früher Halter der zaristischen Anleihe gewesen. Genau so kam es! Und Kostolany sackte mit dieser Idee mehrere tausend Prozent Rendite ein.

Auch eine geniale Idee von ihm war es, die alte Young-Anleihe des deutschen Reichs von 1930 kurz nach dem zweiten Weltkrieg zu erstehen. Auch hier hatte Kostolany Vertrauen in Konrad Adenauer und die deutschen Tugenden. Er setzte auf ein Wirtschaftswunder und auch darauf, dass die Deutschen nach ihrem neuen Erfolg als Zeichen ihres Integrationswillens in die westliche Wertegemeinschaft ihre alten Schulden begleichen würden. Auch hier behielt er recht und konnte nach einigen Jahren sagenhafte Gewinne verzeichnen. Bei all dem Erfolg von damals drängt sich natürlich die Frage auf, ob es solche Spekulationsmöglichkeiten heute überhaupt noch gibt?

Je stärker sich die internationalen Märkte durchsetzen, je besser die Informationstechnik wird, desto weniger Möglichkeiten bieten sich, solche Gelegenheiten zu finden. Je weniger der Staat in die Wirtschaft direkt eingreift, desto weniger bringt die kurz- bis mittelfristige Analyse der Politik für einen Spekulanten einen Ertrag ein. Schade ist das nicht. Menschen, die wie Kostolany von der Spekulation so gut leben konnten, haben nicht gerade viel zum Aufstieg der Wirtschaft beigetragen, von dem sie profitierten. Natürlich, sie stellten Kapital zur Verfügung und gingen Risiken ein. Dass er aber von der Bedienung alter Schulden profitierte, kann man auch kritisch sehen. Die Bedienung der Schulden wurde als derart wichtig empfunden, weil man Familien, die dadurch viel Geld verloren hatten, eine Entschädigung zukommen lassen wollte. Es war eine Art Wiedergutmachung nach dem Krieg, ein kleiner Trost nach all den Zerstörungen, Verwüstungen und Toten, welche die Deutschen hinterlassen hatten. Er nutzte eine Gelegenheit aus, die eigentlich aus Wohltätigkeit heraus getan wurde und nicht um ihn reich zu machen.

Das Ende des Spekulanten?

Wenn heute auch die Kunst des Spekulierens in Kostolanys Sinne dem Zahn der Zeit zum Opfer fällt, so sollten wir eher bedauern, dass es niemanden mehr geben wird, der solch spannende Geschichten von der Börse zu erzählen weiß. Denn ich glaube kaum, dass uns in Zukunft ein Investitions-Algorithmus oder ein ETF-Sparplan über seine schlaflosen Nächte aufgrund eines Engagements berichten wird. Dass die Spekulation an sich uninteressanter wird, ist meiner Meinung nach jedoch nicht zu bedauern. Heute ist es wieder möglich, in wenigen Jahren mit kreativen Geschäftsideen, die tatsächlich das Leben der Menschen verbessern, viel mehr Geld zu verdienen, als mit dem geschickten Wetten auf Staatsanleihen oder Währungen. Eine solche Tätigkeit scheint doch etwas produktiver und sinnvoller zu sein als das Erhaschen einer günstigen Spekulationsgelegenheit. Aber einen unwiderstehlichen Charme muss man Kostolanys Lebensart zugestehen. Die Leichtigkeit, die Abkehr von einer richtigen Ertragsarbeit, die Unabhängigkeit, der Spaß am eigenen Einschätzen der politischen Verschiebungen in der Welt, da kann man Kostolanys Begeisterung nachvollziehen. Aber ich finde, dass Kostolany der letzte Meister dieses Metiers bleiben sollte, denn er hat diesem Beruf mehr abgewonnen, als er eigentlich verdient hätte. Und vielleicht war es doch falsch, dass uns an ihm ein berühmter Kunstkritiker oder vielleicht ein noch größerer Geschichtenerzähler, ein Schriftsteller, gar ein Poet verloren gegangen ist. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn er nicht nach Paris in die Börsenlehre gegangen wäre?

Die letzten Jahre verbringt Kostolany damit, Seminare zu geben, Vorträge zu halten und als Botschafter der Börse durch die Lande zu ziehen. Seine Bücher werden in über 20 Sprachen übersetzt und verkaufen sich mehrere Millionen Mal. Andre Kostolany starb im Jahr 1999, mit 93 Jahren, in Paris. Er wurde in Budapest begraben.

Hier noch die schönsten Bon-Mots des Altmeisters:

 „Die Leute fragen mich: „Wie wird man ein Spekulant?“ Da antworte ich immer: So wie ein junges Mädchen zum ältesten Beruf der Welt kommt. Am Anfang macht sie es aus Neugierde, dann aus Lust und zum Schluss nur für Geld. Ich bin noch in der zweiten Phase.“

„Was ist das Hausse und Baisse?“, fragt der Junge seinen Vater. „Die Hausse mein Lieber, das ist Champagner, ein Mercedes und schöne Frauen; die Baisse, das ist die U-Bahn, ein Glas Bier, deine Mama.“

„Ich will keine großen Feierlichkeiten um meinen 90. Geburtstag. Wenn Gott sieht, wie viel Aufheben um mich auf der Erde gemacht wird, holt er mich gleich in den Himmel.“

„Ich sage immer, an der Börse gewonnenes Geld ist Schmerzensgeld: Erst kommen die Schmerzen und dann das Geld.“

„Ich habe nirgends so viele Dummköpfe pro Quadratmeter getroffen wie auf dem Börsenparkett.“

„Nur die Deutschen glauben, dass man sich Geld verdienen kann. Die Franzosen hingegen gewinnen das Geld, die Engländer ernten es, die Amerikaner machen es und die armen Ungarn suchen es.“

„Ich weiß, dass eure Professoren hinter meinem Rücken sagen, ich sei ja nur ein Scharlatan. Aber denen antworte ich: Lieber bin ich ein guter Scharlatan, als ein schlechter Professor.“

„Denken Sie einmal über Aluminium-Aktien nach.“ (Audi-Werbung)

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